Kapitel 26

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Ich erkannte ihn erst, nachdem er seine Hände von meinen Augen nahm. Langsam hatte ich mich umgedreht und ihn hinter mir entdeckt. Dort stand er, schaute mich an und trug ein kleines Schmunzeln auf seinen Lippen. Es war ganz so, als würde sein Anblick reichen, um mich glücklich zu machen.
Wie gerne würde ich ihn hassen, so liebend gerne wollte ich ihn allein dafür hassen, was er war und wofür er stand. Er stand doch für die Fehler unserer Gemeinschaft. Wie konnte ich so eine Person vermissen, mögen und ihr vertrauen? Theoretisch war dies ein Verrat an unsere Ordnung. Mein Vater stand für diese Ordnung, er stand für unsere Gesellschaft, dennoch hatte es ihn nicht daran gehindert eine Entführung als gut anzusehen. Ich hatte es in seinem Blick erkannt. Er war stolz gewesen, dass er davon wusste und fand es schlecht, dass diese Sache in Gefahr war. Wahrscheinlich stimmte das letztere sogar und es war wirklich schlecht, wenn diese Sache an die Öffentlichkeit kommen würde. Doch war es wert, für eine Sache eine Person zu verschleppen und vor allem wohin wurden diese zwei Personen verschleppt. Was war das für eine Sache, dass mehrere Menschen, Bewohner der Stadt, eine Entführung in Kauf nahmen um sie in die Finger zu bekommen. War es etwas gefährliches oder war es ein Geheimnis? Logen die Ratsmitglieder uns an? Das konnte es nicht sein. Wahrscheinlich waren es nur irgendwelche uninteressanten Dokumente, nur was wenn dem nicht so war und uns allen etwas wichtiges vorenthalten wurde?
Miles Stimme holte mich aus meinen mich lagenden Gedanken. "Wie lange wartest du schon hier?"
"Nicht lange. Vielleicht zehn Minuten?"
"Ich hatte gehofft, dass du kommst. Nur konnte ich mir schließlich nicht einmal sicher sein, dass du meine Nachrichten überhaupt bekommen hast." er lachte und auch ich musste mit ihm lachen.
Es stimmte, wie hätte er überhaupt wissen können, dass ich seine Nachrichten bekommen hatte. Nach dem Regelwerk unserer Gesellschaft hatte er als Unwürdiger nicht das Recht auf höhere Bildung und damit auch nicht die Erlaubnis diese Bibliothek zu betreten.
Ein Fehler reichte aus, um sein ganzes Leben bestraft zu werden.
"Wie geht es deiner Familie?"
"Uns geht es gut. Mein kleiner Bruder hatte vor ein paar Wochen einen fantastischen Geburtstag, welchen er, glaube ich, dir zu verdanken hatte. Danke dafür nochmal."
Das hatte ich schon halb vergessen. Doch es freute mich dem kleinen Jungen aus seiner Wohnung, den sie nur kurz kennen lernen durfte, eine Freude gemacht zu haben.
"Warum wolltest du mich sehen?"
"Komm mit und ich zeige dir den Grund." er stand auf und schaute mich erwartungsvoll an.
Auch ich stand auf und drehte mich schon einmal zur Feuerleiter, jedoch hatte Miles einen anderen Plan und zog mich an der Hand in die andere Richtung.
Seine Hand führte uns zum Rand des Daches und dort blieb er stehen. Er ließ meine Hand los, nahm mehrere Schritte Anlauf und rannte los. An der Kante stieß er sich ab und sprang. Voller Schreck hielt ich meinen Atem an. Aber er landete nach einer Schrecksekunde sicher auf der anderen Seite auf dem Haus neben der Bücherrei. Mit einem Handzeichen deutete er mir an auch zu springen und zu ihm zu kommen.
Nachdem ich einmal ganz tief Luft geholt hatte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und nahm genau wie er mehrere Schritte Anlauf. Während ich landete, schloss ich meine Augen und öffnete sie erst, als ich wieder Boden unter den Füßen spürte.
Miles zog mich auf meine Beine und rannte weiter. Zu seinem Glück waren so gut wie alle Häuser dieses Viertels mit einem flachen Dach ausgestattet, sodass wir gut über sie hinweg kamen.
Jedes Mal wenn ich ihm dabei zusah, wie er über das nächste Dach sprang, als wäre dies ein leichtes, zog sich alles in mir zusammen und dennoch machte ich es ihm stets kurz darauf nach und mit der Zeit gewann ich immer mehr Mut hinzu. Durch meine Adern pochte das Adrealin und noch nie hatte ich mich so lebendig gefühlt wie in dieser Nacht.
Mit den Sternen über uns sprangen wir durch die Siedlungen und suchten uns unseren Weg durch die Stadt. Miles zeigte mir wie ich über Abflussrohre an Häusern runter und auch wieder hochklettern konnte.
Er zeigte mir, wie er unbemerkt durch die Stadt lief, sodass er, wie damals in der Gasse, an Orten wie aus dem Nichts erscheinen und auch wieder verschwinden konnte. Sein gewünschtes Ziel lag scheinbar im Südviertel und damit in einem Viertel, welches ich so gut wie nie bisher betreten hatte. Es war das Viertel, indem mein Vater arbeitete und auch das Viertel, indem ich die ersten fünf Jahre meines Lebens verbracht hatte. Doch auch wenn es meine ehemalige Heimat war, bestand meine einzige Erinnerung an den südlichen Teil unserer Stadt aus unserer Wohnung und dem Versammlungsplatz. Es war schon komisch, an wie viele Dinge ich mich seit dem Umzug erinnern konnte, doch an wie wenig davor. Und selbst diese paar kleinen Dinge, die mir im Gedächnis geblieben sind, waren eher verschwommen und unklar, fast so als wären es Erinnerungen an ein komplett anderes Leben, also Erinnerungen, die nicht wirklich zu mir gehörten.
Diese Lücke in meinem Leben sei normal, hatten meine Eltern schon, seitdem ich sie zum erstem Mal danach gefragt habe, gesagt. Es war normal, dass man sich erst ab dem sechsten Lebensjahr an viele Sachen erinnern kann, dennoch konnte sich Annabeth an so viele Kleinigkeiten aus ihrer frühen Kindheit erinnern und ich mich nur an diese Paar.
Wenn ich ehrlich war, hatte ich immer gehofft, dass mir das Südviertel beim Betreten bekannt vorkam, doch nun wusste ich, dass dem nicht so war. Ich erkannte nichts wieder, gar nichts.
"Wir saind da." wiedermal holte mich Miles Stimme aus meinen Gedanken.
Wir standen auf einem Haus, welches ganz in der Nähe der Mauer stand, die unsere Stadt von den Vororten abgrenzte. Über die Jahre waren die Vororte gewachsen und von Luftbildern wusste ich, dass man die Grenze zu unserer Stadt ohne die Mauer nicht mehr erkennen können würde.
Ganz ah vor der Mauer standen wir nun. Noch nie war mir aufgefallen wie hoch sie in Wirklichkeit war. Von weiter weg sah es so aus, als wäre sie höchstens so hoch wie ein Haus, doch nun erkannte ich ihre wahre Höhe. Es würde mich nicht wundern, wenn sie dem Turm in der Höhe Konkurenz machte.
Viel Zeit blieb uns beiden nicht mehr auf dem Dach, denn Miles drängte mich weiter, vom Dach hinunter. Wie schon mehrere Male vorher in dieser Nacht, kletterte ich also an einer Regenrinne am Haus hinunter. Dann legten sich wieder Miles Hände um meine Augen und verdeckten mir meine Sicht. Kurz bekam ich Panik, doch dann erinnerte ich mich daran, dass mir Miles nie etwas schlechtes wollte und ich ihm vertraute.

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