Kapitel 36

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Fast wäre mir ein Schei der Angst über die Lippen gekommen, doch glücklicherweise hielt Miles Hand mich vor diesem Missgeschick noch rechtzeitig auf. Somit erstickte er den Laut mit seinen Fingern und rettete uns damit wohl vor der Entdeckung durch die Wächter. Doch als ich meinte nicht mehr schreien zu müssen, blieb seine Hand auf der selben Stelle liegen. Scheinbar vertraute er mir nicht unbedingt in der Hinsicht meiner Selbstbeherschung. Gleichzeitig drehte er uns beide um und so sahen wir gleichzeitig in den Schein der Taschenlampe.
Zuerst sah ich rein gar nichts, da sich meine Augen durch das helle Licht blenden ließen. Glücklicherweise dauerte es nur einen relativ kurzen Augenblick bis ich wieder etwas erkennen konnte.
Dabei erkannte ich, dass der Träger der Taschenlampe keine Uniform trug und somit war der Mann kein Wächter. Wir hatten unsere Verfolger wohl wirklich abgehangen.
"Kommt her!" schallte eine raue Stimme durch die Nacht und jagte einen Schauer über meinen Rücken.
Diese Stimme erschrickte mich nochmals so sehr, wie vor ein paar Minuten. Dieses Mal war ich aber diejenige, welche die Hand auf meinen Mund führte. Fest drückte ich meine Finger auf meine Lippen. Aber ich hatte auch an meinem Rücken eine ruckartige Bewegung und daraus schloss ich, dass mein Begleiter wohl genauso erschütterlich war wie ich. Ich kannte viele Jungs, und ich nannte sie mit Absicht Jungs, welche stets unerschütterlich taten und schlussendlich genauso wenig Mut besaßen, wie die Mädchen bei dem Anblick einer Spinne. Man konnte sich nicht unbedingt sicher sein, was für eine Art der männlichen menschlichen Spezie vor dir sitzt. Aber ich wusste auch noch nie, was für eine Person ich war. Vorher dachte ich eigentlich immer, dass ich das Mädchen war, welches lebte unter Kontrolle. Ich wusste immer, wann ich meine Grenzen erreicht hatte, genauer ich wusste, wann ich in der Nähe meiner Grenze war und kehrte dann um. Grenzen  waren für mich wie der Horizont. Sie waren da und ich sah sie, doch gleichzeitig waren sie für mich unerreichbar.
Aber ein Tag reichte, um mich zu ändern. Eine kleine Kugel wurde ins Rollen gebracht und mehr brauchte es nicht. Eine Kettenreaktion wurde die Folge und aus dem Mädchen ist jemand geworden, den ich nicht mehr definieren konnte. Ich fragte mich, wie Menschen mich sahen und ob sie es überhaupt taten. Klar es war logisch, dass manche Menschen mich nicht kannten. Allein die Vorstellung von jedem erkannt werden zu können, erfüllte mich mit einem viel schlimmeren Schauer, als eine Stimme es jemals könnte. Woher sollte ich aber wissen, wer mich wahrhaftig kannte. Langsam war mir nicht einmal eindeutig klar, ob ich mich selbst richtig kannte oder ich eigentlich nur auf dem Weg war mich zu finden und das wahre Ich zu erkennen.
Doch ich wusste von einer Person, welche mich irgendwie von Beginn an so wahrnahm wie ich nun war, auch als ich noch gar nicht so war. Miles wusste wie ich zu meinem Horizont komme und das ich danach auf ihm balanzieren würde. Nun war es soweit, dass ich meine Grenzen gefunden hatte und ich tanzte auf ihnen. Es interessierte mich nicht, ob ich mal auf ein oder andere Seite der feinen Linie landete, wenn ich mein Gleichgewicht  mal für einen Moment verlierte. Denn darum ging es schließlich doch in meinem Alter. Ich war noch nicht so alt, dass ich mich weise nennen konnte. Doch gleichzeitig war ich zu alt, um mich naiv zu nennen.
Ich war in dem Moment des Leben, indem noch alles möglich war und es lag an mir die Möglichkeiten kennen zu lernen.
"Kindchen, nun macht schon, oder wollt ihr, dass euch die Wächter schlussendlich doch noch kriegen."
Für mich lag die Antwort schon in meinen Händen. Es war wohl irgendwann notwendig, dass mich jemand stoppen würde. Aber noch war diese Zeit nicht gekommen und ich war mir ziemlich sicher, dass es noch ein bisschen dauern würde, bis ich schließlich meine Weisheit erreicht hatte und bis dahin wollte ich noch so einiges erreicht haben. Vielleicht war ich mir noch nicht zu einhundert Prozent sicher, was ich erreichen wollte.
"Komm Miles." ich umschloss sanft seine Finger und lief auf den großen Mann zu. Dieser hielt mir eine kleine Hintertür auf. Schnell schlüpfte ich durch sie hindurch und zog Miles einfach hinter mir her. Mal wieder kamen wir in einen dunklen Raum, welcher ein kleines bisschen nach Schimmel roch, aber außer das kleine Naserümpfen während den ersten Schritten zeigte ich aber wohl keine größere Reaktion auf den Gestank. Über eine Treppe kamen wir in einen weiteren Raum, welcher uns eine weitaus besser riechende Atmosphäre bietete.
Meine Nase empfand diese Tatsache auf jeden Fall als sehr erfreulich und mein Blick auf Miles verdeutlichte, wie sehr auch er sich darüber freute.
Nur wussten wir beide nicht, wo wir uns gerade befanden und wer unser mysteröser Herlfer war.
"Willkommen in meinem Zuhause Cyana." sprach der unbekannte Mann mich mit meinem Vornamen an und verwunderte mich noch ein weiteres Mal.
"Entschuldigen Sie, aber woher kennen sie mich?"
"Sie kannten meinen Freund, somit kannten  sie auch auf gewisse Weise mich."
"Wen sollte sie kennen?"
"Sei ruhig Miles, sei doch nur ein einziges Mal still. Ich glaube er redet von Fabian."
Als ich seinen Namen nannte, huschte ein trauriges Lächeln über die Lippen des Mannes. Dabei fiel mir auf, dass er mir bekannt vorkam. Seine Gesichtszüge waren ein bisschen so wie die von Fabian. Die Ähnlichkeit war nicht besonders groß, aber sie war dennoch vorhanden.
"Fabian war mein Cousin. Wir hatten in den letzten Jahren nicht mehr wirklich viel Kontakt, doch vor ein paar Wochen bakam ich einen Brief von ihm. In diesem Brief war ein Bild von dir und eine Bitte. In dem Moment wusste ich, dass es meinen Cousin wohl nicht mehr gab."
Ich nickte, denn ich wusste einfach nicht, was ich sonst machen konnte.
Stattdessen stellte ich ihm eine Frage: "Woher wussten Sie, dass wir es dort draußen im dunklen waren?"
Er zuckte nur mit den Schultern und bot mir dann eine Tasse Tee an. Selten hatte mich ein Mann mehr verwirrt, als dieser Mann innerhalb von nur fünfzehn Minuten. Aber sein Angebot einen sicheren Platz zum Übernachten zu besitzen, reichte Miles wohl aus, um sich auf dem Sofa niederzulassen.

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