Kapitel 15

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Kurz darauf war ich mal wieder auf dem Weg zur Bibliothek. Wie die letzten paar Wochen hatte ich vorher noch einmal kurz bei Fabian vorbei geschaut, doch heute war dieser irgendwie nicht da gewesen und auch seine Ladentür war abgesperrt. Eigentlich hatte ich vor heute ein neues Buch für die Vorlesestunde von Fabian auszuleihen. Daraus wurde aber wohl nichts mehr. Dann würde ich wohl einfach die Kinder fragen, was ich ihnen vorlesen sollte. Doch es war schon komisch, dass sein Laden zu war. Er war immer offen. Fabian verbrachte jeden Tag dort, er lebte dort in den hinteren Zimmern. Nur zum Einkaufen ging er vor die Tür und in den letzten Tagen habe ich das häufig schon für ihn übernommen. Während ich dies gemacht habe, war ich immer in meinem Viertel einkaufen. Dort gab es eindeutig bessere Lebensmittel als im Nordviertel, nicht das ich dort schon einmal etwas im Supermarkt eingekauft habe, aber ich konnte mir dies zumindest noch vorstellen. Vielleicht war ihm etwas passiert? Doch das konnte nicht sein, oder?

Während ich zur Bibliothek ging, überlegte ich schon einmal, welches Buch ich vielleicht vorlesen könnte und versuchte die sorgenden Gedanken an Fabian zu verdrängen. Mir erschien es immer so, als würden die Kleinen sich immer am meisten darüber freuten, wenn ich eine Stelle aus Alice im Wunderland vorlas. Vielleicht sollte ich einfach genau das tun. Sie würden sich bestimmt darüber freuen.
Mit diesem Gedanken kam mein kleines Lächeln wieder zurück auf mein Gesicht. In meinem Kopf festigte sich ein kleiner Plan ab. Denn die Kinder waren nicht die Einzigen, die gerne jedes Mal wieder Alice im Wunderland lasen. Auch ich war nicht wirklich abgeneigt der Geschichte gegenüber. Egal welches Buch ich von Fabian ausgeliehen hatte, befanden sich stets noch zwei weitere Bücher in ihrer Tasche. Ihr neustes Lieblingsbuch Romeo und Julia und auch Alice im Wunderland waren nun ihre stetigen Begleiter.
Scheinbar fanden es die Kleinen nicht schlimm, dass ich kein neues Buch mitbrachte. Denn sie kamen direkt angerannt und wollten wissen, ob ich ihnen nicht die Geschichte von Alice erzählen kann. Dies war mir natürlich ein Vergnügen und so hockte ich mich mit ihnen auf den Boden. Nachdem ich mich kurz vergewissert hatte, dass uns niemand Beachtung schenkte, holte ich das Büchlein aus der Tasche und schlug es auf. Bevor ich anfing vor zu lesen, schaute ich noch einmal kurz in die Gesichter der Kleinen. Jeder blickte mich großen Augen an und schien es gar nicht erwarten zu können, dass ich anfange zu lesen.
Diesen Gefallen machte ich ihnen nur allzu gerne. Mit ruhiger Stimme fing ich an zu lesen und tauchte somit mit ihnen in die fantastische Welt von Alices Wunderland ein. Gemeinsam besuchten wir den Hasen, den verrückten Hutmacher und natürlich die rote Königin.
Nach eineinhalb Stunden tauchten wir wieder auf und fanden uns dann wieder in der Realität wieder. In den Augen der Kinder wurde ein Glitzern sichtbar. Dieses Glitzern brachte mich selbst zum Lächeln. Es war mir vorher noch nicht einmal aufgefallen, doch diese Geschichte bringt genau dasselbe Glitzer in ihre Augen, wie bei Fabian, wenn er über alte Gegenstände redete.
Lächelnd verabschiedete ich mich noch kurz von den Kleinen und machte mich dann daran die Bücher einzusortieren.
Meine Aufgabe führte mich zu den Regalen an der Eingangstür. Auf dem Weg dorthin hatte ich schon drei Kinder an mir vorbei laufen sehen. Ihre Mütter schienen eine Unterhaltung zu führen und dabei ihre Kinder nicht um sich haben zu wollen. Also hatten sie sie weggeschickt.
Ohne dass ich das wirklich wollte, konnte ich das Gespräch der Damen mit anhören. Die drei Frauen schienen befreundet zu sein, zumindest soweit ich dies beurteilen konnte. Insgesamt gingen sie sehr locker miteinander um und lachten viel.
Es war eine ganz normale Unterhaltung zwischen Freundinnen. Dennoch riet mir mein Bauchgefühl weiter zu zuhören. Also legte ich das letzte Buch nicht zurück in das Regal sondern hielt es vor mein Gesicht. Meinen Rücken lehnte ich an das Regal und lauschte.
Scheinbar konnte ich meinem Bauchgefühl wahrhaftig trauen, denn nun veränderte sich die Richtung ihres Gespräches. Sie unterhielten sich auf einmal nicht mehr über ihre Ehemänner und die neuste Mode, sondern gingen nun zu ihren Kindern über.
Doch dies wäre nicht so interessant gewesen, wenn es nur im Großen und Ganzen um ihre Kinder gegangen wäre. Das Interessante war, dass sie über das Verhalten ihrer Kinder sprachen. Scheinbar hatten sie sich etwas verändert.
Die eine Mutter erzählte davon, wie sie ihre Tochter letztens beim Malen eines Kaninchens mit Hut und Jacke erwischt hatte. Laut beschwerte sie sich wie ein Kind auf solche Ideen kommen konnte. Ein Kaninchen mit Hut und Jacke war ihrer Meinung nach einfach nur verrückt. Verängstigt fragte sie ihre Freundinnen, ob ihre Tochter vielleicht verrückt sei.
Über diese Frage konnte ich einfach nur den Kopf schütteln. Ihre Tochter war doch nicht verrückt, sie war vielleicht kreativ und fantasievoll, aber doch nicht verrückt. Fast hätte sie dies laut gesagt, aber dann hätte sie sich verraten. Trotzdem konnte sie nicht anders als zu lächeln, das Mädchen hatte das Kaninchen aus Alice im Wunderland gemalt.
Kurz darauf erfuhr sie durch ihr Lauschen, dass auch die anderen beiden Mütter einige überraschende Erfahrungen machen mussten. Der Sohn der Einen hatte letztens mit einem Lineal durch die Luft gefuchtelt und sich dabei eine Geschichte erzählt. Natürlich fand auch seine Mutter dies durchaus beängstigend, dabei hatte der Kleine nur gespielt. Aber auch die dritte Mutter hatte bei ihrer Tochter etwas bemerkt, scheinbar erzählte sie seit Neusten immer irgendwelche Geschichten. Geschichten, die keinerlei Sinn nach ihrer Meinung nach ergaben.
Leider wurde dieses höchst interessante Gespräch abrupt von den Kindern der Frauen unterbrochen. Etwas kreischend kamen diese nämlich angerannt und plapperten direkt drauf los.
Da sprach der kleine Junge plötzlich eindeutig von der Vorlesestunde und dann ausgerechnet noch von dem Kaninchen. Durch einen Spalt zwischen den Büchern im Regal konnte ich die Reaktion der Mütter erkennen. Ihre Augen wurden auf einmal groß und fast gleichzeitig schauten sie sich an. Ihnen wurde eindeutig klar, dass das neue Verhalten, welches so überhaupt nicht dem Bild unserer Gesellschaft entsprach, wohl an den Geschichten der Vorlesestunden lag, an meinen Vorlesestunden.
Schnell machte ich, dass ich von dort wegkam und flüchtete dann aus der Bibliothek. Es könnte gut sein, dass ich nun in der Klemme steckte.

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