Direkt am nächsten Tag wollte ich meinem Schwager im Turm einen Besuch abstatten. Somit machte ich mich nicht auf, um zur Arbeit zu gehen, sondern um meine Mission zu beginnen. Dafür zog ich mir ausnahmsweise Kleider an, welche in dem von mir gemiedeten Teil ihres Schrankes zu finden waren. Mein Eltern staunten nicht schlecht, als sie mich in einem schwarzen Bleistiftrock und einer mintfarbenen Blusen mit hohem Kragen in die Küche treten sahen. Mein Spiegelbild hatte mich beim ersten Blick genauso angestarrt, wie meine Eltern es nun taten. Es war nicht nur ungewohnt, es passte einfach nicht zu mir. Ich war nie der Mensch für Blusen und enge Röcke gewesen. Vor allem die Bleistiftröcke, die alle in der Stadt trugen, hatte ich stets lautstarkt als unpraktisch und unschön bezeichnet. Nicht kurz hatte ich gebraucht, um mir diese Wörter auszudenken, denn als ich als kleines Kind zum ersten Mal das Wort hässlich mit Kleidung in Verbindung gebracht hatte, hatte ich damit einen Streit mit meiner Lehrerin und nachher mit meiner Mutter vom Zaun gerissen. Scheinbar war dieses Wort eine Schande für unsere Gesellschaft. Was dies bedeuten sollte, konnte ich mir immer noch nicht erklären. Denn nach den beiden Frauen war es in Ordnung, wenn man dieses Wort in einer Verbindung mit Menschen und der Umgebung verwendete, aber nicht bei der Kleidung von diesen Menschen. Doch selbst bei dieser Regel gab es eine Ausnahme, denn jemand der über dir steht, egal vom Job oder insgesamt in der Gesellschaft, war niemals hässlich, doch jeder der unter dir stand und deiner Meinung nach nicht außerordentlich schön, durfte mit diesem Adjektiv betitelt werden.
Jetzt wo ich eigentlich erwachsen war, erschien diese Regelung nur noch dummer, als mit den sechs Jahren, als ich sie zum ersten Mal gehört hatte. Es passte einfach nicht zusammen. Wie konnte man sich das Recht nehmen jemanden beleidigen zu können, nur weil er nicht auf deinem gesellschaftlichen Rang stand wie man selber. Denn die Ränge hatten wir selbst bestimmt. Wir hatten es so gewählt, dass die Reichen oben standen und die Armen unten.
Dies war fast so, wie in der Zeit vor dem letzten Gericht. Auch damals war es schon immer so gewesen, dass manche Menschen in der Gesellschaft über anderen standen. Stets hatte ein kleiner Teil der Menge die Macht über den Rest. Zu Beginn gab es die Könige und die Adligen und später dann die Millionäre und Geschäftsführer. Vielleicht hatte sich seit dem Beginn der Menschheit nie etwas großartig verändert.
Genauso wie zuvor gab es auch in unserer Stadt die Gier nach Macht. Jeder Bewohner strebte nach Geld und der dazugehörigen Macht.
Es hatte sich nichts geändert. Der Grund, aus dem die Stadt entstanden war, war damals zwar gut durchdacht und stimmte auch, dennoch hatte sich nichts verändert. Wir waren nicht besser als die Menschen von früher. Denn wir waren genau wie diese Personen, nur hatten wir uns von den Reden unserer Präsidenten eine Sonnenbrille aufsetzen lassen, sodass wir nun alles verquert aufnahmen. Wir hatten uns auf ein Ross gesetzt, welches uns weder gehörte noch zustand. Mehrere hundert Tausend Bewohner wurden von einer einzigen Person und dem dazugehörigen Hofstaat, welcher aus den Ratsmitgliedern gebildet wurde, an der Nase herum geführt. Genauer gesagt wurde meine Familie nicht nur von diesen Personen, zu denen jeder nur wenig Kontakt pflegte, da sie nicht zu den offenen Kreisen gehörten, sondern von dem Vater und Ehemann geblendet. Wie blind ich doch gewesen bin.
Ich hatte jahrelang zu diesen Menschen dazu gehört. Alle, die ich näher kannte, dachten so und das schon ihr ganzes Leben lang. Die haben nicht die Welt der Unwürdigen kennen gelernt und haben dadurch den Fehler in unserer Gesellschaft gefunden. Obwohl dies stimmte nicht unbedingt, ich kannte doch eine Person, die sich immer als Gegner der Regierung verstanden hatte. Diese Person war ein Teil meiner Familie und wurde von allen soweit ausgegrenzt, sodass er sich in die Vororte verzogen hatte.
Mein eigener Onkel hatte all' die Jahre lang versucht uns die Wahrheit zu übermitteln und unser Fehldenken aufzuklären. Vor allem mit mir hatte er sich immer über genau die Sachen unterhalten, die ich in den letzten Monaten bemerkt habe. Vielleicht war er der Grund, weswegen ich überhaupt erst bemerkt hatte, dass es dieses Fehldenken wirklich gibt.
Und das gab es. Doch es war so tief verankert in unseren Köpfen, sodass die meisten wohl nie eine wirkliche Chance haben dies wieder los zu werden.
Wie häufig hatte ich mich selbst als ein Teil der Auserwählten gesehen. Nie hatte ich etwas falsches in diesem Gedanken erkannt. Ich wollte zu Beginn nicht einmal etwas mit Miles zu tun haben, dabei war er wohl besser als jeder meiner alten Freunde. Er kümmerte sich nicht nur um sich selbst, ich hatte längst erfahren, dass seine Geschwister nur wegen ihm so gut ernährt waren und auch hatte ich das Gefühl, dass er zu den Beschützern der Unwürdigen gehörte.
Wie falsch ich doch gelegen habe und wie besessen ich darauf gepocht hatte, dass Miles und alle seine Freunde und Verwannte schlechte Menschen waren. Doch vor allem die Kinder der Unwürdigen konnten nichts dafür. Sie wurden alle für etwas bestraft, wofür sie rein gar nichts konnten.
Ich hatte meine Kindheit geliebt. Damals war ich noch so unbedarft und dies obwohl ich mich nur an ein Teil erinnern konnte. Eins wusste ich genau, meine Kindheit war das Schönste, was ich bisher erlebt hatte.
Doch diese Kinder hatten es schon von Kindesbeinen auf an schwer. Ihnen wurde die Kindheit genommen. Sie taten mir so leid, doch ich konnte trotzdem nichts für sie tun. Ihnen wird allein durch ihre Geburt eine schöne Zukunft genommen. Die Schuld dafür lag aber auf keinen Fall bei den Eltern. Denn sie lag bei der Regierung. In den Grundsätzten unserer Stadt stand, dass jedes Kind, welches geboren wurde, die gleichen Rechte hatte. So gab es in jedem Viertel eine Schule für die Kinder, die dort wohnten.
Diese Ansage war schon falsch und mit Lügen bestickt. Wenn jedes Kind die gleichen Rechte hatte, warum war dann die Schulausbildung im meinem Viertel viel besser und höher angesehen, als die aus dem Westviertel? Aber vor allem warum gab es dann im Nordviertel überhaupt keine Schule?
Dadurch wurde ihnen das Recht auf eine Ausbildung vollkommen verwehrt, denn es war so, dass man niemals eine Schule besuchen durfte, die nicht in seinem Viertel stand.
Aber keinem war es aufgefallen. Niemandem! Denn wie ich schon gesagt hatte, hier in dieser Stadt lief eindeutig etwas komplett schief.
Wir waren nicht die Auserwählten Gottes, wir lebten nicht im Paradies. Unsere Stadt war ein Teil dieser Erde und wir waren genauso wie die Menschen schon immer waren.
Wie waren blind gegenüber der Ungerechtigkeit und damit waren wir alle Unwürdige.
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Paradise
Science FictionWie sieht das Paradies aus? Ich kann es euch sagen. Im Paradies gibt es genau fünf Regeln. Brichts du eine davon, dann verschwindest du aus unseren Reihen. Diese Regeln machen das Paradies aus. Sie machen es perfekt. Kein Ort der Welt ist so wie uns...