Kapitel 44

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Dass das Glück nicht stets auf meiner Seite stand, war mich immer bewusst gewesen, doch ich hatte noch nicht gewusst, wie wenig es eigentlich mir hold war. Aber noch war ich einfach die nächsten zwei Tage zufrieden, dass ich nicht von meiner Mutter auf dem Flur oder gar in dem Büro meines Vaters entdeckt worden war.
Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was für einen Ärger ich von meinen Eltern bekommen hätte, hätte mich irgendwer dort entdeckt. Doch ich war kein Mensch, der über Geschehnisse in der Vergangenheit allzu viel nachdachte. Eigentlich versuchte ich stets zumindest nicht immer in meinen Gedanken sondern hauptsächlich im Hier und Jetzt zu leben.
Dass meine Tagträumerei diesen guten Vorsatz jedes Jahr theoretisch schon nach einem Tag wieder aushebelte, war mir dabei an Silvester dennoch egal. Meine Mutter nahm sich immerhin auch stets vor, ihre Gefühle besser unter Kontrolle zu halten. Wirklich daran halten tat sie sich auch nie, genauso wie sich meine Schwester an dem Tag vornahm endlich schwanger zu werden. Als ob man dies wirklich planen kann, wenn dein Ehemann nicht mal dieses Vorhaben teilt.
Insgesamt war es gut sich einen Plan zu machen. Sich Vorsätze zu überlegen, doch sie müssten zumindest realistisch sein. Außer man  machte es wie ich, ich machte sie mir um mich zu Beginn wenigstens immer mal wieder daran zu erinnern, aber nicht um sie unbedingt einzuhalten. Mein Hausarrest ließ mir insgesamt viel Zeit zu Grübeln. Ich dachte dabei aber nicht nur einfach so nach, ich schaute mir jeden Tag auch gefühlt eine Ewigkeit das Papier mit den Zahlenkombinationen an und überlegte, wo ich dies schon einmal gesehen hatte. Eine Antwort fand ich aber auch nach vier Tagen nicht.
Schon fünf Tage war ich nun von der Außenwelt abgeschnitten und ich hatte langsam das Gefühl viel zu viel schon verpasst zu haben. Aber ich konnte leider an meiner jetztigen Situation nichts verändern. Nicht das ich dies nicht versucht hatte, aber meine Mutter passte eigentlich immer darauf auf, dass ich unten im Erdgeschoss niemals vollkommen alleine war. Mein Zimmer durfte ich alleine aufsuchen, doch jede halbte Stunde schaute entweder Susan oder meine Mutter nach mir. Ich fühlte mich wirklich nicht wohl in dieser Situation. Am Montag hatte ich wohl den einzigen verplanten Tag erwischt. Auch da hatte ich wohl Schwein gehabt.
Die Haustür war auch weiterhin verschlossen und mit jedem Tag fühlte ich mich mehr so, als wäre ich in einem Gefängnis und nicht bei mir Zuhause.
Der einzige Lichtblick am Tage waren die Abendnachrichten, aus denen ich schließen konnte, was möglicherweise dort draußen wirklich geschah. Doch, da ich durch meine jüngsten Erfahrungen schon seit langen nicht mehr so naiv, wie vor ein paar Monaten war, wusste ich, dass in den Nachrichten nicht alles gezeigt wird. Unser Sicht wurde von der Regierung, den Wächtern und dem Präsidenten gefiltert.
Am Wochenende, an dem Samstag, kam mal wieder meine Schwester uns besuchen. Im Schlepptau war natürlich mein geliebter Schwager. Überschwänglich wurden sie von meiner Mutter begrüßt. Auch mein Vater freute sich so sehr über ihren Besuch, ganz so als wären sie nicht erst letzte Woche sondern vor einem Jahr das letzte Mal bei uns zum Abendessen gewesen. Es war doch fast schon lächerlich, wie meine Eltern sich zum Affen machten.
Doch wie schon die letzten fünf Tage spielte auch ich einfach mit. Ich hatte gelernt, dass, wenn ich mich so dumm verhielt, wie ich vor Monaten gewesen war, ich ein bisschen mehr Bewegungsspielraum besaß.
Somit machte ich einfach gute Miene zum bösen Spiel und lächelte genauso bescheuert wie meine Eltern. Dieses Lächeln verließ mich auch nicht beim Essen. Unsere Haushälterin hatte irgendetwas zauberhaftes gekocht, sodass ich neben dem Still sein einfach nur essen konnte. Der Rest meiner Familie unterhielt sich prächtig, doch ich gab den ganzen Abend keinen Ton von mir. Alles, was ich machte, war lächeln und essen. Wenn mich meine Mutter oder mein Vater zwischenzeitlich mal auffordernd anschauten, schob ich mir einfach die nächste Gabel mit Essen in meinen Mund und hatte somit eine Ausrede, weswegen ich mich auch in diesem Moment nicht an dem Gespräch beteiligen konnte. Damit mussten meine Eltern klar kommen.
Gerade als ich meinte, dass wir uns endlich erheben und ins Wohnzimmer schreiten könnten, klingelte es an der Haustür und ich wurde aufgefordert unserem unbekannten Gast doch bitte die Tür zu öffnen.
Genervt kam ich der Bitte meiner Mutter nach und lief zur Haustür. Gerade als ich die Klinke nach unten drücken wollte, klingelte es ein weiteres Mal. Also beeilte ich mich die Tür aufzureißen. Wer unser unbekannter Gast war, verwirrte mich gleichermaßen, wie es mich erfreute und fröhlicher stimmte.
"Onkel Robert! Was machst du denn hier bei uns?" glücklich fiel ich ihm um den Hals, denn bei ihm stimmte es, dass er schon seit Monaten nicht mehr bei uns gewesen war.
An dem Schnauben hinter mir erkannte ich, dass meine Mutter wohl im Flur aufgetaucht sein musste. Ich wusste wirklich nicht, wieso meine Mutter ihren Bruder so sehr hasste, aber sie tat es. Es war also kein Wunder, dass mein geliebter Onkel nicht wirklich häufig bei uns zu Besuch war. Meine Schwester teilte übrigens mit meiner Mutter die Abneigung gegen ihren Verwannten. Robert kümmerte sich aber erst gar nicht um meine Mutter, sondern schritt einfach durch zum Wohnzimmer und schaltete den TV ein. Der Rest meiner Familie schien genauso überrascht über Robert zu sein, wie ich es zu Beginn war.
Nun überrscht war ich immer noch, doch dies legte sich langsam und machte der Verwunderung über sein Verhalten Platz.
"Ich war in der Gegend und ich muss mir die Nachrichten anschauen." erklärte er seinen Besuch eher schlecht als recht.
Doch immerhin lenkte dieser Satz meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Gerade sprach der Nachrichtensprecher über irgendetwas unwichtiges. Ich sah keinerlei Grund, weswegen mein Onkel bei uns deswegen vorbeischaute. Dies wurde jeden Abend gezeigt und hatte keinerlei Relevanz.
Auf einmal verschwand der Sprecher und der Bildschirm wurde für kurze Zeit dunkel. Dann trat der Präsident in das Bild. "Willkommen meine lieben Mitbürger. Dies ist eine Sondermeldung. Heute morgen wurde einer unserer Wächter schwer verletzt. Diese Tat geschah durch eine Gruppe von Unwürdigen. Die Gruppe besteht aus fünf jungen Unwürdigen, welche eindeutig nicht zufrieden sind mit den Konsequenzen, welche ihre Verbrechen vor ein paar Monaten oder Wochen mit sich ziehen. Diese Männer sind für uns alle gefährlich und ich bitte Sie, dass Sie, sobald Sie einen Mann sehen, der einen, der hier eingeblendeten Verbrecherbildern ähnlich sieht, diesen sofort bei den Wächtern melden. Ich danke Ihnen für ihre Mithilfe. Dies ist die Zeit, in der wir als Gemeinschaft zusammen halten müssen. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen noch."
Nach der Ansprache wurde ein Überwachungsvideo des Nordviertel gezeigt. Man erkannte deutlich, wie die fünf Männer auf den Wächter einschlugen. Doch mir fiel noch eine Person auf. Ein junges Mädchen rannte die Gasse entlang. Scheinbar rannte sie vor der Prügelei davon und dies mit vollkommen zerrissenen Kleidern.
Wäre es möglich, dass auch dieses Mädchen fast einer Vergewaltigung zum Opfer gefallen wäre?
Kurz blickte ich in jedes Gesicht aus meiner Familie. Meine Mutter regte sich schon über die Unverschämtheit der Unwürdigen auf. Sie meinte, dass sie sich geehrt fühlen sollten, überhaupt noch hier leben zu dürfen. Annabeth stimmte ihr zu und Alexander meinte noch, dass sie Glück hätten nicht aus der Stadt verbannt zu werden, was dem Tode entspricht. Immerhin weiß jedes Kind, dass die Gegend um die Stadt herum  vollkommen zerstört war und der Boden unfruchtbar geworden war. Wir waren die wenigen Überlebenden der ganzen Welt.
Auch mein Vater nickte zustimmend. Keiner schien das Mädchen auch nur gesehen zu haben.
Obwohl, ich blickte neben mich und sah direkt in das Gesicht meines Onkels. Er blickte mich auch an und formte mit den Lippen die Frage, ob ich es auch gesehen hätte.
Sofort wusste ich, was er meinte. Also nickte ich, denn ich hatte die Ungerechtigkeit, das wahre Verbrechen gesehen.
Nach dem Video wurden die gezeichneten Verbrecherbilder noch ein weiteres Mal gezeigt und ich zuckte zusammen, als ich Miles in einem der Gesichter wieder erkannte.
Dies war gar nicht gut. In meinem Körper stieg die Angst um ihn empor. Was passierte, wenn jemand anderes als ich ihn erkannte? Ich wollte es mir gar nicht erst ausmalen. Mit ganzem Herzen hoffte ich einfach nur, dass auch ihm das Glück hold sein mag.

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