Kapitel 1

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Sanft strich meine Mutter über meine Haare und blickte mir in die Augen. Ihr Blick sprühte nur so vor Stolz, doch gleichzeitig schaute sie mich immer so leicht komisch an. Als würde ich sie immer an jemanden erinnern, der sie tief verletzt hatte.
Ihre Finger strichen mir eine meiner schwarzen Strähnen aus meinem Gesicht. Jedes Mal, wenn ich mich selbst im Spiegel betrachtete und danach an meine Familie dachte, fragte ich mich, von wem ich diese Farbe überhaupt geerbt hatte. Weder meine Mutter noch mein Vater besaßen diese schwarzen Haare, aber mein Vater meinte, dass Mutters jüngere Schwester die gleiche Farbe hatte, genauso wie ihre Großmutter. Auch meine Haut war dunkler als die meiner Eltern, aber zumindest wusste ich, dass ich meine karamellfarbene Haut von meinem Großvater geerbt hatte.
Lächelnd strahlte ich meine Mutter an und setzte mich zu meiner Familie an den Esszimmertisch. Jeden Abend aßen wir gemeinsam als Familie zu Abend. Heute war Samstag und deswegen waren auch meine Schwester Annabeth und ihr Ehemann Alexander zu Besuch. Mein lieber Schwager war der Neffe des Präsidenten im Paradies und auch mein Vater war im Stadtrat vertreten.
Alles war wie immer.
Ganz nach der Tradition sprach der Oberhaupt der Familie, also mein Vater, die traditionelle Ansprache.
Wir waren die Auserwählten. Denn wir waren die einzige Hoffnung für die ganze Menschheit. Unsere einzige Aufgabe war es, etwas Besseres zu werden. Die Fehler unserer Vorfahren niemals zu vergessen und nicht noch einmal zu wiederholen. Wir werden nicht versagen, unsere Gier wird uns nicht zu den Sklaven ihrer Selbst machen.
Das Paradies hat uns auserwählt und wir würden dieses Geschenk nicht wiederholt mit den Füßen treten.
Fünf Regeln. Fünf Regeln, denen wir folgten.
Fünf Regeln, die uns vor unserer Gier schützten.
Fünf Regeln, die den Frieden sicherten.
Fünf Regeln, die uns als würdig erwiesen.
Das letzte Gericht würde nicht über uns siegen. Wir waren nicht mehr die Zerstörung. Wir waren die Ehre.
Es sollte nicht mehr zu einem vierten Krieg kommen.

Spät am Abend schaute ich noch ein letztes Mal für den heutigen Tag aus dem Fenster. Unser Haus stand im reicheren Viertel der Stadt. Zwar lebten wir nur am Rand des Viertels und waren auch nicht so reich, aber wir konnten uns alles Notwendige leisten. Mein Vater hatte beim Abendessen davongeredet, dass sein Bruder bald wieder zu Besuch kommen würde. Sein Bruder, mein Onkel, Robert lebte genau auf der anderen Seite der Stadt, im Vorort, weiter abseits vom eigentlichen Paradies.
In unserer Familie war er nicht so wirklich angesehen. Er hatte, zumindest nach Mutter, mal ein Verhältnis mit einer Unwürdigen. Unwürdige sind der Teil unser Mitbürger, die eine der fünf Regeln gebrochen hatten. Sie wurden nicht der Stadt verwiesen, denn das würde auch wiederum gegen diese Regeln sein. Aber nein, sie lebten unter uns. Ihr Viertel lag im Norden der Stadt, unseres lag im Osten. Der Grund, für diese Lage, war der Verlauf der Sonne. Im Osten, wo das Reichenviertel mit den ganzen Parkanlagen lag, ging die Sonne auf, im Süden, wo das Stadtzentrum mit den ganzen Firmen lag und auch die Mittelschicht wohnte, wanderte sie über den Tag hinweg, im Westen, wo das Viertel der Kunst lag und auch die Häuser der Ärmeren standen, ging sie unter und im Norden, der Teil der Unwürdigen, fand man sie nie am Himmel stehen. Somit war die Lage der Viertel eine Art Metapher, für die Unwürdigkeit dieser Bewohner.
Jeden Tag fuhr jeder Bewohner der Stadt in den Süden. Wenn man sich mit Freunden treffen wollte, verabredete man sich meist im westlichen Teil. Der Norden wird von so gut wie jedem Bewohner gemieden. Jeder Unwürdige hatte eine der fünf Regeln verletzt, missachtet oder beschmutzt.
Keiner, der dort wohnte, hatte die Rechte, wie wir sie besaßen. Dieser Unterschied machte ihre Strafe aus. Jeder wollte Teil der Stadt sein. Jeder verehrte die Regeln, verehrte die Stadt selbst.
Sie taten es nicht.
Es war also nur fair, dass sie nicht dasselbe durften wie wir. Ich konnte zwar nicht verstehen, warum man auch nur eine der fünf Regeln brechen sollte, aber wenn man es tat, sollte man auch die Strafe bekommen.
Die Schlimmsten waren die Menschen, die die erste Regel brachen. Unter ihnen fand man die Diebe und sogar Mörder.
Ich verstand einfach nicht, warum man diese nicht schlimmer bestrafte, als sie einfach nur in den Norden zu schicken. Doch ich folgte den Anweisungen der Regierung. Niemals würde ich die zweite Regel brechen.
Meine Freundinnen sprachen immer wieder davon, dass ich die Regeln viel zuernst nahm, aber warum sollte ich sie nicht ernst nehmen? Es war meine Pflicht sie zu ehren. Ich erzählte den jungen Kindern Geschichten, die diese Regeln verdeutlichen sollten.
Mein Nebenjob in der Bibliothek der Stadt war es nämlich genau das zu tun. Jeden zweiten Tag las ich eine der Geschichten vor. Sie sollten helfen, den kleinen Kindern die Wichtigkeit dieser Regeln klar zu machen. Auch den Rest der Woche arbeitete ich ab mittags in der Bibliothek. Ich räumte Bücher ein und stand für Fragen zur Verfügung.
Bald würde ich mit meinem Studium beginnen und dann wäre ich morgens in der Universität. Meine Schwester war mit ihrem Studium schon fertig und arbeitete nun in einer großen Firma als Assistentin.
Doch mein Traum war es Ärztin zu werden und den Menschen zu helfen. Aber bis ich das erreichen würde, würde es noch etwas dauern.
Ein Gähnen zeigte mir, dass ich schon viel zu lang am Fenster saß. Ich musste morgen früh aufstehen, denn es war der dritte Sonntag in diesem Monat und damit der Tag der Ansprache.
Jeden dritten Sonntag sprach unser Präsident zu den Bewohnern. Obwohl es meinst eine eher langweilige Angelegenheit war,  war es dennoch eine Pflichtveranstaltung und wenn ich ehrlich war, ging ich sogar ziemlich gerne hin.
Danach traf ich mich immer mit meinen Freundinnen in einem schönen Café im Westviertel. Dies ist über die Jahre unser kleines Ritual geworden und ich freute mich jeden Monat auf dieses Treffen.
Leider sah ich meine beiden Freundinnen, seitdem wir die Schule beendet hatten, nicht mehr so häufig und diese Verabredung war eines der wenigen im Monat.
Noch einen kurzen Moment lang schaute ich zu den leuchtenden Hochhäusern empor, bevor ich mich dann endgültig umdrehte und in meinem Bett in einen tiefen Schlaf fiel.

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