Kapitel 7

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Die Sorge verschwand auch am nächsten Morgen nicht aus dem Gesicht meiner Mutter. Sie war nicht leicht zu erkennen, aber sie war doch vorhanden. Man erkannte sie in der kleinen Falte auf ihrer Stirn und ihre leicht zusammen geklemmten Lippen. Sie versteckte es gut und tat weiterhin so, als wäre alles bestens. Auch der Besuch meiner Schwester war eigentlich ganz normal. Der ganze Tag war normal und genau da lag das Problem. Die Sache war die, auch wenn wir würdig waren, waren wir nicht unbedingt perfekt. Wir versuchten es nur. Wir versuchten perfekt zu sein, aber dadurch waren wir nicht langweilig.
Also kam es so gut wie nie vor, dass nichts besonderes am Tag passierte. Das kein Glas umkippte und kein Fleck die Tischdecke schmückte. Nur heute war es so. Die Welt schien für Außestehende vielleicht ganz typisch. Doch dem war nicht so. Meine Mutter kochte selten etwas. Noch seltener kochte sie Mittags. Abends war das nicht ganz so unüblich.
Heute hatte sie aber nicht nur gekocht, sie hatte auch geputzt und gebacken. Dabei besaßen wir eine Haushaltshilfe, die für Besuche immer Kuchen backte und sowieso jeden Tag das Haus reinigte. Es war also vollkommen unnötig, dass meine Mutter den ganzen Vormittag durch unser Haus gelaufen war.
Aber egal wie häufig ich sie darauf angesprochen hatte, sie wollte nicht auf mich hören. Also ließ ich sie einfach machen und versuchte mich nicht zu sehr über ihr Verhalten zu wundern.
Mein Vater war heute besonders früh zur Arbeit aufgebrochen und somit hatte ich ihn bisher noch nicht gesehen.
Zur Mittagszeit kam auch schon meine Schwester und damit hatte ich wenigstens jemanden zum Reden. Sie erzählte mir von ihrer Woche. Scheinbar war es diese Woche bei ihrer Arbeit ziemlich stressig gewesen. Dann sprach sie über Alexander und zum ersten Mal fiel mir auf, dass es sich irgendwie komisch anhörte, wenn sie über ihn sprach. Irgendetwas fehlte, doch was fehlte wusste ich nicht. Das einzige, was ich wusste, war, dass mir das bisher noch nie aufgefallen war.
Meine Mutter stellte kurz darauf schon einen Topf auf den Tisch und ich holte die Teller und das Besteck, sodass wir endlich essen konnten.
Bevor ich mich aber hinsetzen konnte, klingelte es an der Tür. Schnell lief ich zur Haustür und öffnete diese.
Vor unserer Tür stand mein Onkel und grinste mich an. Was tat er hier? Meine Mutter hasste ihren Bruder und mein Vater hatte noch nie etwas Gutes über ihn laut ausgesprochen. Allgemein wurde mein Onkel Robert von der ganzen Familie totgeschwiegen. Schon immer hatte ich mich gefragt, warum dies so war. Ich kannte ihn nicht gut. Schon seit Jahren war er nicht mehr zu uns gekommen. Früher in meiner Kindheit war er häufiger hier, doch dann hatten sich meine Mutter und Robert gestritten und er hat seit dem Tag nie wieder ein Fuß in unser Haus gesetzt. Also war es nun nur sehr verstäntlich, dass ich so verwundert war.
Ganz perplex trat ich zur Seite, sodass er eintreten konnte. Er lief direkt weiter ins Esszimmer. Nicht einmal begrüßt hatte er mich. Kein Wunder, dass meine Eltern ihn nicht ausstehen konnten. Schon vom Foyer aus konnte ich den Entsetztenslaut meiner Mutter hören. Ein Stuhl kippte um und danach herrschte Stille.
Schnell beeilte ich mich auch zum Esstisch zu gelangen. Dort stand meine Mutter stocksteif und starrte ihren Bruder an. Der grüßte nun uns alle und ließ sich auf einem Stuhl sinken. Immer noch leicht verwirrt holte ich noch einen weiteren Teller und das Besteck dazu. Danach ließ auch ich mich auf meinen Stuhl sinken.
Während ich in der Küche war, hatte auch meine Mutter sich wieder von ihrem Schock erholt und hingesetzt.
Im Stillschweigen aßen wir das Essen. Zwischendurch schielte ich mal zu meiner Mutter und dann zu meinem Onkel. Meine Schwester tat einfach so als wäre alles normal und aß einfach nur die Suppe.
Irgendwann wurde ihr die Stille wohl zu blöd und so versuchte sie ein Gespräch aufzubauen. "Was machst du hier, Onkel Robert?"
"Ich wollte euch einmal wieder besuchen."
Unsere Mutter lachte nur freudlos auf. "Du kommst nie einfach so mal vorbei. Was willst du dieses Mal? Geld?"
"Ob du es glaubst oder nicht, ich bin wirklich einfach nur so hier."
Wieder lachte Mutter nur und erhob sich dann. Ohne ein Wort zu sagen verließ sie den Raum.
"Wie geht es dir?" versuchte ich die Stimmung wieder etwas zu lockern.
Doch er antwortete mr nicht, dafür stand meine Schwester auf und folgte meiner Mutter. Erst dann fing Robert an zu sprechen. "Mir geht es gut. Ich habe erst gestern einem kleinen Jungen aus dem Nordviertel etwas zu essen verschafft. Da kann es mir nur gut gehen."
"Was meinst du damit?"
"Ich habe ihm Brot gekauft."
Er hatte einem Unwürdigen Brot gekauft? Noch nie habe ich gehört, dass jemand das getan hatte. Warum hatte er das getan? Oder viel eher, warum war das notwendig?
Ein Blick auf die Uhr ließ mich erschrocken aufstehen. Die Vorlesestunde begann schon bald. Hastig lief ich zur Tür hinaus.
Auf dem Weg bemerkte ich auf einmal eine alte Frau am Straßenrand sitzen. Sie war so dünn, dass man jeden Knochen erkennen konnte. Dieser Anblick erschriek mich.
Wie konnte ich das all die Jahre noch nie gesehen haben? Wie konnte die ganze Stadt dieses Leid zu lassen? Wer war daran schuld? Wir oder die Regierung, oder doch diese armen Menschen selbst.
Erleichtert trat ich in die Bibliothek. Vielleicht würde mich die Arbeit von diesen Gedanken ablenken. Wie immer freute ich mich darauf, denn heute war wieder Vorlesestunde und das Beste war, dass heute auch die neuen Bücher dafür ankommen sollten. Die Kiste stand hinter dem Tresen. Doch bevor ich mich daran machen konnte ein Buch für später auszusuchen und einmal drüber zu lesen, musste ich erst einmal die tagtäglichen Arbeiten in einer Bibliothek erledigen. Aufgaben wie zurückgegebene Bücher auf die einzelnen Wägen verteilen, sodass ich später nicht so viel Zeit brauchen würde sie zurück in die Ragale zu stellen. Eine etwas nervige Arbeit, aber zum Glück wurden dadurch meine Gedanken lahm gelegt und vor allem ließ mich die Vorfreude auf die Kiste unter dem Tresen mich meine Aufgabe schneller erledigen.
Die Arbeit hatte also schon einmal ihre Aufgabe erledigt.

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