Kapitel 14

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Erst vor der steinernen Brücke, die zu den Grauen Anfurten führte, holte Morwen Tauriel ein.

„Bitte warte doch, Tauriel", setzte Morwen noch völlig außer Atem an, doch die Waldelbin unterbrach sie.

„Du bist mir in der letzten Zeit eine gute Freundin geworden, Morwen. Doch verlange nicht von mir, dass ich hier verweile. Für mich gibt es keinen Grund mehr, in Mittelerde zu bleiben." Ihre Stimme zitterte einen Moment lang. „Vielleicht kann ich in Valinor Trost finden." Bittend sah sie Morwen an. „Versuch doch, mich zu verstehen."

Morwen antwortete nicht. Sie spürte, wie sich in ihren Augen Tränen sammelten und unternahm nicht einmal den Versuch, diese zurückzuhalten.

Sanft zog Tauriel ihre Freundin in eine Umarmung. „Ich sehe doch, dass auch du unglücklich bist", flüsterte sie, „möchtest du mich nicht begleiten?"

Bei diesen Worten spannte sich Morwen unwillkürlich an. Glaubst du wirklich, die Valar würden Saurons Tochter Zutritt zu ihrem Land gewähren? Die Worte ihrer Mutter hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Niemals wieder hatte ihr Vater den Namen der Frau ausgesprochen, die er einst geliebt hatte, und je älter sie wurde, desto weniger hatte Morwen an Edhellos gedacht.

„Morwen?" Tauriel klang bestürzt. „Was hat du denn?"

„Es ist nichts", antwortete Morwen heiser, doch gleichzeitig schob sie die andere Elbin ein Stück von sich weg.

Tauriel schüttelte ihren Kopf. „Das glaube ich dir nicht, Morwen. Warum hast du so abwehrend auf meine Frage reagiert? Das war bisher nie deine Art."

„Es gibt keinen Platz für mich in Valinor." Zu spät erkannte Morwen, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte.

„Sag das nicht. Die Valar halten für jeden Elb und jede Elbin einen Platz in ihrem Land bereit."

Morwen schüttelte traurig den Kopf. „Nicht für mich." Sie seufzte leise. „Das würdest du nicht verstehen."

„Dann erkläre es mir." Tauriel ließ sich auf einem flachen Stein nieder und Morwen tat es ihr gleich, ohne darüber nachzudenken.

„Was ist es für ein Geheimnis, das du um jeden Preis zu wahren versuchst?", erkundigte sich Tauriel leise.

Morwen zögerte. Was wird sie tun, wenn ich ihr die Wahrheit sage? Wird sie mich ein Ungeheuer nennen? Es bereuen, mich jemals getroffen zu haben? Doch gleich, wie sie dann über mich denken wird, ein Schiff wird sie in jedem Fall besteigen. Vielleicht ist es besser, wenn sie die Wahrheit kennt, dann wird es ihr leichter fallen, mich zu verlassen.

Ohne ein Wort zu sagen, zog Morwen ihren silbernen Ring vom Finger. „Sieh ihn dir genau an", forderte sie Tauriel mit tonloser Stimme auf.

Vorsichtig nahm Tauriel den Ring zwischen zwei Finger und drehte ihn langsam. Es dauerte nur kurz, bis sie die Schrift auf seiner Innenseite entdeckte. „Was steht dort?", fragte sie leise.

„Ash nazg durbatulûk, ash nazg gimbatul, ash nazg thragatulûk agh burzum-ishi krimpatul", flüsterte Morwen und spürte, wie ein kalter Wind sie streifte.

Neben ihr begann Tauriel zu zittern. „Das waren die Worte, die einst den Einen zierten", murmelte sie, „warum trägst du einen Ring mit solch dunkeln Worten?"

Vorsichtig nahm Morwen ihrer Freundin den Ring aus der Hand. „Weil sie für mich keine dunklen Worte sind. Ich hörte sie lange bevor ich in der Lage war zu sprechen."

„Von wem? Wer würde ein Kind mit der Schwarzen Sprache aufwachsen lassen?"

„Es sind die Worte meines Vaters." Morwen schien es, als höre sie ihre eigenen Worte aus weiter Ferne.

Tauriels Augen weiteten sich erschrocken. „Das kann nicht sein", hauchte sie.

„Es ist wahr." Morwens Blick glitt in die Ferne, über die schimmernde Wasserfläche hinweg. „Ich bin die Tochter dessen, den ihr Sauron nennt."

„Aber du bist überhaupt nicht wie er." Tauriels Stimme war kaum zu hören. „Du willst das Leben anderer nicht zerstören, sondern ihnen helfen. So wie du mir geholfen hast. Ohne dich hätte ich den Weg hierher niemals geschafft."

„Ich glaube, jetzt verstehst du, warum mir der Weg nach Valinor verwehrt ist." Ein bitterer Unterton stahl sich in Morwens Stimme. „Auch meine Mutter wusste das."

„Wer war sie?", fragte Tauriel zögernd.

„Eine vom Volk der Noldor." Morwen bemühte sich, jedes Gefühl aus ihrer Stimme auszuschließen. „Als ada ihr sagte, wer er wirklich war, verließ sie uns. Sie bestieg ein Schiff in den Westen und kehrte nie zurück."

„Du glaubst, die Valar würden dich dafür bestrafen, dass er dein Vater ist? Du bist für keine seiner Taten verantwortlich", sagte Tauriel beruhigend, „ich bin sicher, dass sie dich in Valinor aufnehmen würden."

Morwen schüttelte den Kopf. „Selbst, wenn das so wäre, bin ich noch nicht bereit dafür."

Ein Horn unterbrach das Gespräch der Freundinnen.

„Das Schiff legt bald ab", flüsterte Tauriel traurig.

„Dann ist das jetzt also der Abschied?"

Sie erhoben sich und erneut zog Tauriel Morwen in eine freundschaftliche Umarmung. „Ich werde nach dir Ausschau halten, Morwen", versprach sie, „ich werde auf dich warten."

Als sie Morwen losließ und sich langsam abwandte, streifte ihre Hand die ihrer Freundin. Überrascht fühlte Morwen kühles Metall, um das ihre Finger sich unwillkürlich schlossen.

„Namarie, Morwen." Es schien, als wagte Tauriel es nicht, noch einmal innezuhalten.

Langsam schritt sie über die Brücke, ihrem Schicksal entgegen.

Nun erst öffnete Morwen ihre Hand und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie die filigrane Silberkette erkannte, die seit ihrer ersten Begegnung Tauriels Hals geziert hatte.

Sanft trugen die Winde das Echo ihrer Worte über das Wasser.

„Namarie, Tauriel..."

Morwen, Tochter SauronsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt