Kapitel 1

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Als Morwen sich vollkommen sicher war, dass kein feindliches Wesen in der Nähe war, pfiff sie leise auf zwei Fingern. Kurz später kam Dûr, ihre nachtschwarze Wargin zu ihr gelaufen. Zum Glück hatte auch sie sich verstecken können, sodass Morwen wenigstens noch sie als Gesellschaft hatte. Kurz strich sie ihr über das dichte Fell, dann schwang sie sich auf Dûrs Rücken. Es brauchte nur ein kleines Zeichen, um Dûr zu zeigen, dass sie losgehen musste, denn die beiden kannten sich schon seit vielen Jahren. Morwen wusste noch genau, dass die Wargin ein Geschenk ihres Vaters gewesen war, aber wann und warum sie sie bekommen hatte, war ihr nicht im Gedächtnis geblieben.

Am Rand der Brücke, die vom ehemals prächtigen Eingang Dol Guldurs über eine tiefe Schlucht führte, zögerte Morwen einen Moment lang. Wohin sollte sie nun gehen? Schließlich kannte sie niemanden in Mittelerde, der sie gerne bei sich aufnehmen würde. Plötzlich erinnerte sie sich daran, was ihr Vater ihr vor nicht allzu langer Zeit erzählt hatte. „Der Osten wird schon bald fallen", hatte er gesagt, „wenn wir erst den Erebor erobert haben, wird Angmar wieder stark werden können." Natürlich, sie musste nach Osten reiten und versuchen, das Werk ihres Vaters fortzusetzen und zu vollenden.

Entschlossen bedeutete sie Dûr, weiterzugehen und in schnellem Tempo lief die Wargin sicher über die Brücke. Morwen wartete kurz ab, bis sie den Schatten der hohen Bäume erreicht hatte, dann wandte sie sich Richtung Osten. Ihre größte Sorge war, dass sie einer Elbenpatrouille begegnen könnte und Dûr, die anscheinend ihre Gedanken spürte, beschleunigte noch einmal das Tempo.

Sehr zu Morwens Erleichterung blieben die beiden unbemerkt und hatten schon nach etwa drei Tagen den östlichen Rand des Düsterwaldes erreicht. Von nun an, so wusste Morwen, würde sie ihr Weg Richtung Norden führen. Wie lange es wohl noch dauern würde, bis die Heere ihres Vaters am Berg eintrafen? Ob sie es noch rechtzeitig dorthin schaffen würde?

Während sie nur durch den ohnehin schon dunklen Wald geritten war, hatte es sie nicht interessiert, ob gerade Tag oder Nacht war. Nun jedoch, da sie den ganzen Weg über eine freie Ebene zurücklegen musste und die Sonne ungewohnt hell am Himmel stand, entschied sich Morwen mit ihrer Weiterreise bis zum Anbruch der Nacht zu warten. Sie ließ sich unter einem Felsvorsprung nieder, während Dûr auf die Jagd ging. Gedankenverloren wanderte ihre rechte Hand zu dem silbernen Ring, den sie an der linken Hand trug. Auch er war ein Geschenk ihres Vaters gewesen. Seine Außenseite war schlicht und glatt, nur, wenn sie ihn auszog, konnte sie seine Schönheit erkennen. Sie zog ihn von ihrem Finger und drehte ihn langsam. Auf seiner Innenseite waren Runen eingraviert, elbische Runen, wie Morwen vermutete. Sie konnte sie zwar nicht lesen, doch sie wusste genau, was sie bedeuteten. Schließlich hatte ihr Vater es ihr oft genug erzählt. Dieselben Worte hatten einst auch seinen Ring geziert, doch im Gegensatz zu diesem besaß Morwens Ring keine besonderen Kräfte. Er war nur eine Erinnerung, zeigte ihr immer wieder aufs Neue, dass sie etwas Besonderes war.

Plötzlich drang ein leises Rascheln an Morwens Ohren. Schnell steckte sie den Ring zurück an ihren Finger und griff nach ihrem Schwert. „Wer ist da?", fragte sie leise.

Morwen, Tochter SauronsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt