Fliegen lernen

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Als ich noch klein war, hatte ich das mit der Schwerkraft noch nicht richtig begriffen. Und meine Fantasie hat mich oft ganz schön in Schwierigkeiten gebracht. Aber es gab einen Augenblick, da ist die Zeit stehen geblieben. Von da an war ich zu allem bereit. Während ich auf die Bäume kletterte, stellte ich mir vor, wie es wäre zu fliegen. Ich landete unsanft auf dem Boden und hatte mir das Handgelenk gebrochen. Von diesem Tag an wusste ich, dass ich in einem früheren Leben fliegen konnte. Darum habe ich mich in diesem Leben für das Tanzen entschieden. “Isabella!“, rief mein Vater und ließ mich aus meinen Gedanken hoch schrecken. Schnell nahm ich mir die Kopfhörer aus den Ohren und sah ihn fragend an. “Du wartest doch auf Post oder?“, fragte er grinsend und reichte mir den weißen ungeöffneten Umschlag. Voller Freude und mit zitternden Händen nahm ich den Umschlag entgegen. Meine Finger fuhren über den Stempel der National Academy of Dance. Jetzt war ein Brief für mich gekommen, der mein Leben verändern könnte. Ich atmete durch, öffnete den Brief und holte das perfekt gefaltete Papier heraus. Die Sache ist die, ich tanze nicht nur zum Spaß. Ich möchte Solotänzerin werden. Und vor drei Wochen hatte ich mich an der besten Schule des Landes beworben. Meine Augen gleiteten über den Zettel in meiner Hand und ehe mein Vater mich fragen konnte, ob ich es geschafft hatte, fiel ich ihm schon lachend um den Hals und kreischte ihm ins Ohr. Das war der Beginn von etwas Neuem. Etwas auf das ich mich ewig gefreut hatte, denn ich kam meinem Ziel näher.

Eine Woche später brachte mich mein Vater in die Innenstadt von Sydney. Er setzte mich vor dem großen Gebäude ab, nachdem ich ihm bestimmt Hundert mal versichert hatte, dass ich ihn sofort anrufen würde, wenn ich das Vortanzen hinter mir hatte. Er wäre der erste, der erfahren würde, ob ich meinen Traum verwirklichen konnte. Bevor er wieder fuhr, um mit meiner Stiefmutter Essen zu gehen, wünschten beide mir noch viel Glück und gaben mir haufenweise Umarmungen und Küsschen. Den meisten Teenagern wäre dieses Verhalten peinlich gewesen, aber mir nicht. In diesem Moment zählte nur eins. Und da war sie. Die National Academy of Dance. Dies war jetzt meine große Chance. Vielleicht würde sich mein Traum erfüllen. Ich glaubte, ich könnte es schaffen, aber was wusste ich denn schon. Nervös betrat ich das Gebäude und begab mich auf den Weg in das Tanzstudio. Umziehen musste ich mich nicht mehr. Das hatte ich schon Zuhause erledigt, damit ich genügend Zeit hatte, das Studio zu finden, falls ich mich verlaufen würde. Drinnen roch es nach Schweiß, Nervosität und Angst. Aber was am meisten herausstach war die Leidenschaft. Die Leute waren alle verschieden, dennoch hatten sie eines gemeinsam. Sie waren hier, um das beste aus sich herauszuholen und Tänzer zu werden. Manche probten schon in den Fluren, andere saßen völlig entspannt auf dem Boden und hörten Musik. Jeder bereitete sich anders vor. Ich blieb stehen und blickte durch eine Glasscheibe hindurch, wo ein paar Leute in schwarzen Kostümen Ballett tanzten. Ihre Figuren waren so graziös und elegant, dass ich neidisch wurde. Ich stellte mir vor, selbst dort zu tanzen. Dann merkte ich, dass ich es mir nicht mehr vorstellen musste. Denn ich würde es gleich tun.

“Herzlich Willkommen an der National Academy of Dance. Eine der besten und renomiertesten Tanzhochschulen der Welt.“, begrüßte uns der Leiter vor uns. Er trug einen dunkelblauen Anzug. Seine Haare und sein Bart waren fast weiß und trotz seines strengen Blicks wirkte er freundlich und sympathisch. “Unter Tausenden Bewerbern hattet ihr das Glück ausgewählt und eingeladen zu werden.“ Neben mir tauchte ein Mädchen auf, das ihre Haare richtete und sich aufrecht hinstellte. “Entschuldigung.“, unterbrach sie den Leiter und lächelte nervös. Sie trug einen blauen Ballettanzug. Ihre Haare waren unordentlich hochgesteckt und Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie musste sich beeilt haben, um sich nicht zu verspäten. Hinter uns hörte ich ein paar Mädchen tuscheln, doch ich achtete nicht darauf. Der Leiter blickte uns alle nacheinander an. In seinem Blick war nun nichts mehr freundliches, sondern etwas strenges, was mich hörbar einatmen ließ. “Bedenkt jedoch, in unserer Anfängerklasse ist nur Platz für wenige. Jeder, der glaubt die Befähigung dazu zu haben, muss uns dies in den nächsten Tagen beweisen.“

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