Es geht weiter

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Als ich letzten Sommer für die Ferien nach Hause kam, stellte ich fest, dass meine Stiefmutter, die meisten meiner Spielsachen weggegeben hatte. Sie verstand gar nicht, warum ich darüber so entsetzt war. Ihrer Ansicht nach, gehörten sie nicht mehr zu meinem Leben. Es war Zeit nach vorne zu schauen. Aber wenn man Einzelkind ist und vierzig Minuten von der nächsten Stadt entfernt wohnt, dann sind die Spielsachen eben auch Freunde. Ich war noch nicht bereit mich von ihnen zu verabschieden. Ich war immer sehr ungeduldig und wollte schnell Erwachsen werden, aber seit ein paar Wochen wollte ich die Zeit anhalten und noch etwas länger in meiner kindlichen Welt leben. Man macht sich nicht genug klar, wie es in der Erwachsenenwelt zugeht. Diese Welt ist ziemlich hart.
Als Ethan mir sagte, er wolle zu einem Musical, dachte ich, er scherzt. Doch nun betraten wir zusammen die Halle, in der das Musical geprobt wurde. Als ich die Gesangsübungen mitbekam, wollte ich am liebsten wieder gehen. "Dafür hast du mich aus Tanzgeschichte rausgeholt?", fragte ich angewidert. Ich wollte gerade wieder gehen, aber Ethan hielt mich fest und zog mich mit sich. "Ich habe doch so viel Arbeit in dein Solo für den Prix gesteckt. Bitte.", bittend sah er mich an und wer konnte diesem Blick schon widerstehen? "Hey, der Balletttyp.", rief ein Junge und kam auf Ethan zu, um ihm die Hand zu reichen. "Ethan.", stellte Ethan sich vor und lächelte. "Finn. Ich liebe Ballett. Also die modernen Sachen, nicht dieses ätzende Klassikzeug. Wer steht denn darauf?" Entgeistert sah ich Finn an. Als er meinen Blick bemerkte, hörte er auf zu lachen. Ich drehte mich um und wollte gehen, aber Ethan griff nach meiner Hand und zog mich zurück. "Ja, das ist Isabella. Sie ist mein lebendes Demo.", sagte Ethan und legte den Arm um mich. "Ach, könntet ihr denn als nächstes auftreten?" Ethan nickte eifrig. "Klar." Als Finn ging, widmete sich Ethan mir. "Ähm, ich choreografier dir so viele Tänze wie du willst. Ich werde dein persönlicher Sklave." Seufzend gab ich nach. "Nur, weil du es bist.", sagte ich und ging an ihm vorbei. Nur wenige Minuten später standen wir vorne, doch Ethan schien sehr nervös zu sein. "Äh, also sollen wir jetzt einfach...", stammelte er.
"Loslegen.", sagte Finn und sah uns erwartungsvoll an. "Okay." Ethan schaute mich an. "Loslegen.", sagte er und ich stellte mich in Position. Ethan setzte sich vor das Klavier und zog sein Jackett aus. Nach so vielen Absagen würde ich auch nervös sein. Er begann zu spielen und bei meinem Einsatz fing ich an zu tanzen. "Jaja, das reicht.", sagte Finn und Ethan stoppte. Irritiert sah ich ihn an. "Ähm, meinst du das jetzt positiv oder...", begann Ethan vorsichtig.
"Was? Ist das dein ernst? Das war echt... ich finde euch beide super. Bleibst du noch hier und siehst dir all die anderen an?", fragte Finn begeistert. "Ja.", sagte Ethan. Wir setzten uns hin und warten auf den nächsten Auftritt. "Äh wirst du jetzt nicht irgendwas versäumen? Ich bezahl dir das Taxi.", begann Ethan, doch ich schüttelte den Kopf. "Nein, ist noch Mittag. Ich wollte schon immer mal die Fiese in der Jury sein.", lachte ich und Ethan stimmte mit ein. Die Personen, die auftraten waren eher lächerlich, so dass ich die meiste Zeit jedoch nur lachte. Wer hätte gedacht, dass es mir Spaß machen würde, hier zu sein.

Im Übungsraum wartete ich auf Ethan und um mich nicht zu langweilen, schaute ich mir die Songtexte des Musicals an. Die Texte waren nicht der hammer, aber die Melodie war nicht so übel. Also begann ich auf die Tasten zu drücken und leise vor mich hin zu singen. "Erwischt!", hörte ich Ethan. Fast ließ ich die Zettel vor Schreck fallen und hörte sofort auf zu singen. "Let the walls tear down, let the floors all drown. Wow, reine Poesie.", sagte ich gespielt emotional und lachte dann. "Ach, sei lieber nett.", warnte mich Ethan belustigt und setzt sich dann an das Keyboard. "Das ist Finns Traumprojekt. Ich will nur was gutes für ihn machen.", erklärte er mir. "Das ist so selbstlos von dir, wenn du die Träume von anderen verwirklichst.", stellte ich lächelnd fest.
"Und du könntest mir dabei helfen." Verwirrt blickte ich ihn an. "Wenn ich es höre, kann ich mir die Choreo vorstellen." Lachend schüttelte ich den Kopf. Als er begann zu spielen, fing ich an zu singen. Jedoch absichtlich völlig seltsam. Lachend schaute ich ihn an. "Du solltest dein Gesicht sehen.", lachte ich.
"Da fällt mir gleich was ein.", sagte Ethan sarkastisch. "Mal richtig, huh?" Er sah mich so süß an, dass ich weich wurde und nachgab. "Na schön." Ich wartete auf den Einsatz und fing dann an zu singen. Dieses Mal richtig. Am Ende sah mich Ethan lächelnd an. "Was?", fragte ich und räusperte mich kurz. Ethan schwieg, hörte aber nicht auf zu lächeln. "Jeder Blödi kann singen. Du machst den Mund auf und Töne kommen raus.", stellte ich fest. "Nur nicht so.", antwortete Ethan lächelnd. Innerlich machte mein Herz einen Sprung, als er mich so ansah. So ein großer Idiot war er doch nicht.

Mittlerweile wusste jeder, dass Saskia dafür gesorgt hatte, dass Tara sich den Rücken gebrochen hatte. Sie hatte ihr Bein so weit gedehnt, dass es irgendwann knackste und Tara seitdem Schmerzen hatte. Jetzt kämpfte sie darum, wieder an die Akademie zu kommen, doch Saskia wollte sich nicht entschuldigen. Der Unterricht bei ihr lief auch nicht mehr wie bisher. Niemand gab sich mehr große Mühe. Und Ben stand am Rand und langweilte sich, denn er hatte keine Partnerin. "Kommt jetzt, Leute. Ich wollte auch nicht an diesem Samstag hier sein.", jammerte Saskia und ging im Raum umher. "Wie verheilt Ihre Verletzung, Saskia?", fragte Grace.
"Langsam, Grace.", seufzte sie.
"Zum Glück ist es ja nicht Ihr Rücken.", merkte Grace gehässig an und tanzte weiter. Saskia ignorierte die Aussage und schaute zu Ben, der seine Sachen nahm. "Wo willst du hin?", fragte sie.
"Er hat keine Partnerin.", sagte Christian, während er mich drehte. "Das macht den Pas de Deux eigentlich...", begann Ben.
"Sinnlos?", beendete Sammy seinen Satz.
"Haargenau." Ben öffnete die Tür und verließ dann den Raum.
"Schön, Christian, Isabella, nochmal von der Attitude." Ich atmete tief durch und tat dann genau das, was Saskia sagt. Leider musste ich tun, was sie sagte. "Gut, Isabella. Ich finde du kannst die Attitude noch höher nehmen.", sagte Saskia.
"Wirklich? Vielleicht rücken Sie sie dann hoch für mich?", fragte ich sarkastisch und erntete einen bösen Blick von Saskia. Sie konnte nicht erwarten, dass wir einfach so taten, als wäre nichts.

Kat hatte ein Schiff gemietet, um zu feiern, dass Ethan einen Job hatte. Und sie hatte uns alle eingeladen. "Ahoi du Leichtmatrose!", rief Kat, als sie ihren Bruder entdeckte.
"Es sollte doch keine große Sache sein.", lachte Ethan und kam aufs Schiff, wo ihn jeder feierte. Wir unterhielten uns alle und hatten einfach Spaß. Nur eine fehlte. Und das war Tara. Es war schon seltsam, da sie sonst immer da war. Die letzten Wochen hatte sie mir einfach gefehlt und ich wünschte mir so sehr, dass sie wieder kam. "Hey" Ethan ließ sich neben mich fallen und lächelte mich an. Die meisten hatten sich entschieden ins Wasser zu springen, aber mir war nicht danach. "Also, ich finde wir sollten ausgehen. Ein richtiges Date.", begann er eine Konversation. Ich verkniff mir nur schwer ein Lächeln, was er zu bemerken schien, denn er lächelte nur breiter. "Findest du, ja?", fragte ich herausfordernd.
"Allerdings. Dieser Kuss, deine Augen waren geschlossen.", grinste er.
"Du bist nicht mein Typ.", sagte ich schlicht und versuchte nicht zu lachen. "Ich mag Typen mit Ehrgeiz.", fügte ich hinzu.
"Hart.", lachte er.
"Du warst immer Ethan Kamarakov. Star des dritten Jahres. Und ein großer Idiot, wenn du mich fragst. Erst lehnst du einen Vertrag mit der Company ab und willst choreografieren und dann gehst du nicht, weil...", begann ich und sah ihn fragend an. "Ich wollte lernen. Ich war noch nicht so weit für den eigenen Weg.", erklärte er mir. Ich nickte verständnisvoll.
"Ja, ich weiß. Aber wenn man etwas wirklich will, dann sollte man dafür kämpfen." Ethan sah mich nachdenklich an. Ich schluckte den Kloß hinunter und schaute aufs Meer. "Es ist nicht meine Entscheidung, aber an deiner Stelle, würde ich gehen." Etwa eine halbe Stunde später saß ich alleine. Mein Herz schmerzte und war gleichzeitig viel leichter, weil ich das Richtige getan hatte. "Hey alle mal herhören!", rief Kat und bekam so meine Aufmerksamkeit. "Mein großer Bruder erobert jetzt Europa!" Die Leute fingen an zu jubeln und auch ich freute mich für ihn. Dennoch, auch wenn ich es nicht gerne zugab, ich würde ihn vermissen.

Denkt man an die ganze Bandbreite des Erwachsen werdens, ist es ein winziger Schritt die Spielsachen wegzugeben, verglichen damit, einem Freund gehen zu lassen. Oder einem Feind zu verzeihen. Oder wieder von vorne anzufangen an einem vertrauten Ort, der sich aber ganz anders anfühlt, mit anderen Freunden. Jetzt musste ich mich von dem Jungen verabschieden, der mein Herz ganz anders schlagen ließ. Kat umarmte ihn ganz fest, so als wolle sie ihn nie mehr loslassen. Widerwillig löste er sich von ihr und reicht mir einen Umschlag. "Songtexte. Ich habe Finn deine Nummer gegeben." Lachend sah ich ihn an und schüttelte ungläubig den Kopf, nahm den Umschlag jedoch trotzdem entgegen. Ich nahm ihn fest in den Arm und küsste seine Wange zum Abschied. "Danke. Für alles.", sagte ich leise und löste mich dann nur schwer. "Ach das ist ja wie im Zauberer vom Oz. Es war etwas besonderes Webster.", sagte er und reichte Tara die Hand.
"Oh ja.", sagte sie lachend. Ethan atmete durch und stieg dann ins Taxi. "Und brav sein Leute.", rief er noch, bevor er davon fuhr. Man denkt, es ist der Augenblick, in dem man Erwachsen wird. Aber in Wirklichkeit sind es Tausend verschiedene Momente. Und wenn die passieren, gibt es kein zurück.

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