Es heißt ja, in der Sekunde vor dem Tod hat man noch blitzartig sein ganzes Leben vor Augen. Ich hoffe so sehr, dass das stimmt. Dass man ein Fotoalbum mit jedem Augenblick sieht, damit man weiß, dass man hier war. Dass man geliebt wurde. Dass man existiert hat. Diese Sekunde braucht man sicher, um sich darauf vorzubereiten, denn man denkt ja nicht daran. Zumindest dachte mein Freund nicht, dass er sterben würde. Ihm blieb also nur diese eine Sekunde zwischen Leben und Tod, um sich zu verabschieden. Nach der Beerdigung gingen wir mit Miss Raine zurück zur Akademie, wo sie uns ihr Beileid aussprach und uns darüber informierte, wie es weiter ging. “Als Zeichen des Respekts hat das Prix de Fonteyne Komitee sich entschieden, den Wettbewerb für eine Woche auszusetzen. Und wir streichen unsere Aufführung von Peter Pan.“, teilte Miss Raine uns mit.
“Er war doch gar nicht dabei. Also was sollen wir jetzt hier?“, fragte Abigail mit verschränkten Armen.
“Der Unterricht läuft bis zum Ende des Semesters weiter, aber es bleibt euch überlassen, ob ihr daran teilnehmen wollt. Ich möchte, dass ihr wisst, hier ist euer Zuhause. Wir stellen euch eine psychologische Betreuung zur Verfügung, alle Lehrer sind hier...“ Abigail hörte nicht weiter zu, sondern stellte sich an die Stange und begann zu tanzen. Seufzend stellte ich mich zu ihr und auch die anderen folgten ihrem Beispiel. In diesem Moment wurde mir etwas klar. Ich tanzte, weil es etwas war, dass Sammy und mich verbindete. Und ich tanzte, weil es das Einzige war, das mich noch trösten konnte.Am Abend lagen Tara, Kat und ich aneinandergekuschelt auf der Matratze in meinem Zimmer und starrten die Decke an. “Ich bin kein Beerdigungsexperte, aber ein paar Gebete und schwache Sandwiches? Also, wie kann einer erwarten so damit abzuschließen?“, fragte Kat uns plötzlich.
“Ich finde, heute war alles sehr förmlich.“, stimmte ich zu. Kat setzte sich auf und schaltete das Licht ein.
“Wieso machen wir nicht selber etwas? Einen passenden Tribut für Samuel Lieberman.“
“Shh“, zischte Abigail genervt, die in ihrem eigenen Bett lag und versuchte zu schlafen.
“Okay, fällt euch was ein, was er vielleicht gewollt hätte?“, fragte Kat und ignorierte Abigail einfach.
“Ist doch sinnlos, das noch in die Länge zu ziehen. Das machen alle seit es passiert ist.“, sagte Abigail genervt.
“Wieso? Du hast wohl die Nase voll von Trauerreden, huh?“, zickte Kat sie an. Abigail aber blieb ruhig.
“Das ist so morbide.“
Kats Handy vibrierte und unterbrach somit den Streit der beiden Mädchen. Dafür war ich dem Anrufer ziemlich dankbar. Kat drückte auf den Hörer und führte das Telefon ans Ohr. “Ethan,du musst nicht jede Stunde anrufen.“, sagte Kat. Bei seinem Namen machte mein Herz einen kleinen Sprung. Er hatte auch versucht mich anzurufen, aber ich ging nicht ran. Ich wusste nicht einmal wieso. Vermutlich weil ich eigentlich dachte, er hätte mich vergessen. Außerdem, was brachte es mir mit ihm zu reden, wenn er in Barcelona war? “Versprochen,es geht mir gut.“, sagte Kat, aber nicht mal sie glaubte wirklich daran.Kat wollte unbedingt eine Trauerfeier organisieren, um Sammy zu ehren. Der eigentliche Grund, so glaubte ich, war der, dass sie einfach auf ihre Art damit abschließen wollte. Ich wollte auch abschließen. Doch nichts würde diese Leere in meinem Bauch jemals füllen können.
“Okay, ja. Jemand muss eine Rede halten, also darüber, wie er die Welt gesehen hat. Wie er uns auf seine persönliche Art... ähm... Christian?“ Kat sah ihn fragend an.
“Sorry, was?“, fragte er verwirrt und schaute auf. Sammy und er waren beste Freunde gewesen. Für ihn schien das ganze genauso schwer zu sein wie für mich.
“Schreibst du die Rede?“, fragte Kat.
“Ich mach das.“, warf Ollie ein. “Falls ihr einverstanden seid.“ Niemand sagte etwas.
“Ehm gut, also der Ort ist ganz entscheidend, weil er perfekt verkörpern sollte, wer er ist.“, fuhr Kat fort. Kurz schwieg sie. “Wer er war.“, korrigierte Kat sich noch. Schweigend stand ich vom Sofa auf und verschwand aus dem Wohnzimmer. Denn ich wollte jetzt allein sein. Und vor allem wollte ich nicht, dass meine Freunde mich weinen sahen.Gegen Abend betrat ich mit Abigail das Wohnzimmer, wo die anderen weiterhin über Sammy redeten. Ich hatte viel über alles nachgedacht und gemerkt, dass wir alle die Chance bekommen sollten uns von Sammy zu verabschieden. “Irgendwie macht alles keinen Sinn. Weder die Beerdigung noch eine Gedenkfeier. Auch wenn wir wüssten, was er gewollt hätte.“, hörte ich Kat bedrückt sagen. Sie lag auf dem Sofa und kuschelte mit einem Kissen.
“Er hat es mir gesagt.“, unterbrach ich sie. Überrascht schauten mich alle an. “Dieser Energydrink Zwischenfall. Er dachte, er kriegt einen Herzstillstand.“, lachte ich leicht. Kat lachte auch. Meine Augen sammelten sich langsam wieder mit Tränen. “Es ist ziemlich einfach.“, sagte ich.
Also gingen wir zum Strand, breiteten Decken aus, machten ein Lagerfeuer, zündeten Laternen an und stellten ein Bild von Sammy auf. “Seid ihr so weit?“, fragte Christian, der nun doch die Rede übernahm. In seinen Händen hielt er einen Laptop. Ich nahm neben Abigail Platz und legte eine Decke um uns beide. “Warte.“, sagte Kat plötzlich und sprang auf. Sofort rannte sie los, was ich verwirrt beobachtete. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich Ethan, der Kat in eine Umarmung zog. Schnell schaute ich auf das Lagerfeuer und atmete hörbar ein. Kat zog ihren Bruder auf ihre Decke. Kurz sah er mich an, also lächelte ich ihn leicht an. Doch schnell widmete ich mich wieder Christian. “Okay, wie beschreibt man Samuel Isador Lieberman? Am besten beschreibt man Sammy mit seinen eigenen Worten. Also, ähm.. diese Liste hat er aufgestellt vor dem ersten Jahr. Nummer 50, die Nützlichkeit von Suspensorien widerlegen. 49, eine Lobby gründen für das Ballett als olympische Disziplin.“
“Ja, dabei sollte ich ihm helfen.“, lachte Ethan leicht.
Es verging eine Weile bis Christian alle Punkte von der Liste vorgetragen hatte. “Nummer 21, ein Tattoo stechen lassen. 20, oben auf der Harbour Bridge tanzen.“ Kat, Tara und ich sahen uns wissend an.
“Vier, mich gegen Dad durchsetzen. Nummer drei...“ Christian brach kurz ab. “Mich verlieben, damit mein Herz regiert und nicht der Kopf.“ Abigail neben mir schluchzte auf, weshalb ich nach ihrer Hand griff. “Nummer zwei, die Aufnahme an der National Academy of Dance.“ Christian begann zu weinen. “Nummer eins, eine Gruppe von Freunden finden, die ich für den Rest meines Lebens kenne.“ Als er das sagte, flossen mir wieder Tränen über das Gesicht. “Er hat nicht alles geschafft, das ist klar, aber das letzte auf jeden Fall.“, sprach Christian zu Ende. Lächelnd nickte ich. Das hatte er wirklich.
“Und jetzt wird es Zeit für seinen Lieblingssong.“, sagte ich und erhob mich. Ich stellte mich zu Christian und drückte auf Play. Als die Musik ertönte mussten wir alle lachen.
“Und den mochte er echt am liebsten?“, lachte Ollie.
“Den hat er 368 Mal gehört.“, lachte ich und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. “Und jetzt hören wir den an neunter Stelle.“ Christian umarmte mich kurz, was ich erwiderte. Dann setzte ich mich zu Abigail und nahm sie auch in den Arm. Wir hielten uns alle an den Händen und blieben bis die Sonne aufging einfach dort und dachten an Sammy. An die Zeit mit ihm.
Am Morgen stand Kat einfach auf und zog Ethan mit sich. “Komm wir tanzen.“, sagte sie und das taten sie auch. Nach und nach standen alle auf, um zusammen das zu tun, dass uns alle mit Sammy verband. Nur Tara und ich blieben zurück. “Ich habe nicht geweint seit es passiert ist. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.“, meinte Tara und sah mich an.
“Glaub mir, das kommt noch.“, erwiderte ich und griff nach ihrer Hand, um sie hochzuziehen. Zusammen gingen wir zu den anderen ins Wasser. Lachend griff ich nach Kats Hand und tanzte mit ihr. All meine Trauer steckte ins Tanzen rein. Und dann tauchte ich einfach unter Wasser, um alles zu vergessen. Um den Schmerz nicht mehr zu spüren. Doch jemand griff nach meiner Hand und zog mich wieder nach oben. Als ich auftauchte und meine Augen öffnete, sah ich in Ethans Gesicht. Vorsichtig zog er mich zu den anderen, wo wir eine dicke Gruppenumarmung hatten.
Ich weiß nicht, wie man richtig atmet, jetzt wo mein Freund nicht mehr da ist. Ich möchte trampeln und schreien und alles zurückdrehen. Ich würde alles dafür tun, damit diese furchtbare Leere verschwindet. Und, mehr als alles andere, möchte ich nicht lebe wohl sagen. Also lasse ich es auch. Ich bin nur dankbar, dass ich ihn gekannt habe. Man muss nicht lebe wohl sagen, wenn man sich nie vergisst.
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Dance Academy
FanficIsabella Johnson lebt in Australien und wird an der renomierten National Academy of Dance angenommen, an der sich ihr Leben ändert. Sie lernt mit ihren Mitschülern nicht nur Ballett, sondern auch Hip-Hop-Dance und Modern Dance. Doch die Freunde müss...