Naturtalente

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Als Tänzer hat man sehr viel damit zu tun gegen die Natur anzukämpfen. Du versuchst perfekt zu sein. Das heißt, ein Teil von dir, der selbstkritische Teil, der meint, egal, wie es ist, man kann immer noch besser sein. Zumindest sind die meisten von uns so. Und dann gibt es wenige unter Millionen, die sich gar nicht anstrengen müssen. Das sind die Naturtalente. Es fällt schwer, sie nicht zu hassen. “Alles klar, das war's für heute. Dann sehen wir uns morgen wieder.“, sagte Zach und beendete somit die Stunde. Also nahm ich meine Sachen und verschwand aus dem Raum, als ich meinen Namen hörte. “Isabella.“ Als ich mich umdrehte, entdeckte ich jemanden, mit dem ich nicht gerechnet hatte. “Finn. Du hast harte Kommentare bei unserem Casting abgegeben, aber ich konnte dich erwärmen mit meinem unbestreitbaren Charme.“ Lachend verdrehte ich die Augen. Fast schon erinnerte mich der Typ an Ethan. “Ich erinner mich. Aber ich halte deinen Charme eher für bestreitbar.“, antwortete ich.
“Es ist so, mein low budget, aber dennoch exzellentes Musical sucht noch einen neuen Star.“
“Ja und?“, fragte ich verwirrt. “Ich singe nicht.“
“Unser gemeinsamer Freund Ethan sagt in zahllosen E-Mails das genaue Gegenteil.“
Überrascht blickte ich Finn an. Bei mir meldete er sich nicht, aber bei ihm offensichtlich schon. “Ich sag ja nicht, dass ich nicht singen kann, ich sag nur, ich tu's nicht.“, sagte ich entschlossen. Finn reichte mir einen Zettel und sah mich eindringlich an. “Lies das.“ Seufzend nahm ich den Zettel und ging dann den Flur runter,ohne mich noch einmal umzudrehen. Kat, Tara und Grace saßen auf der Treppe und unterhielten sich. “Ja klar! Ich fühl mich unsicher und unerfüllt. Das fehlt mir!“ Fragend sah ich Tara an, die anscheinend von irgendwas erleuchtet wurde. “Ein stabiler Merkur?“, fragte Grace verwirrt.
“Ein Schwarm!“
Entsetzt sah ich Tara an. “Nicht schon wieder...“, murmelte ich vor mich hin.
“Solltest du dir nicht ein Hobby suchen?“
“Oh wie ich hörte sind Patchworkdecken wieder inn.“, unterstützte Kat mich.
“Ein Schwarm.“, betonte Tara es nochmal und ging. Seufzend sah ich ihr nach. Das konnte lustig werden.

Nach dem Jazz Dance Unterricht bei Zach, blieb ich noch eine Weile im Studio, um mir eine Meinung von Zach zu holen. Erwartungsvoll sah ich ihn an, als ich fertig war ihm meinen Tanz vorzuführen. “Wenn du so etwas schnelles tanzt, dann sollte deine Technik auch perfekt sein.“
“Ich weiß.“, sagte ich.
“Und leicht aussehen.“
Zach verließ den Raum und ließ mich zurück. Ich trainierte etwas eine halbe Stunde bis Finn einfach ins Studio kam. “Muss ich eine Einstweilige Verfügung erwirken?“, fragte ich irritiert und sah ihn an.
“Ach wir haben das Theater nicht mehr für unsere Proben. Ich habe den Raum gemietet, aber teilen wir ihn uns doch.“
“Auf keinen Fall.“, widersprach ich.
“Komm ruhig rein, Misti.“, rief Finn, woraufhin ein blondes Mädchen den Raum betrat. “Ich habe neu besetzt.“, erklärte Finn, als ich sie fragend ansah. “Misti. Lustiger Name.“, sagte ich. Misti lachte. “Danke. Ich schreib mich mit zwei i.“ Belustigt sah ich zu Finn. “Wow.“, formte ich mit den Lippen.

“Unbedingt wichtig bei Mia, deiner Rolle, ist deine Unsicherheit. Sie fühlt sich hässlich, außer wenn sie tanzt.“, erklärte Finn dem blonden Püppchen. Ich stand vor dem Spiegel und übte meine Figuren, beobachtete die beiden aber dennoch. “Aber sie ist doch hübsch oder? Ich bin hübsch.“
“Ja, du bist reizend, aber Mia ist das nicht klar.“
“Das verstehe ich nicht.“
Leicht verdrehte ich die Augen. “Da ist nichts zu verstehen. Nicht jeder schaut in den Spiegel und findet schön, was er sieht.“, mischte ich mich in das Gespräch ein.
“Vielleicht machen wir einfach weiter, uhm... ach ja, der große Auftritt. Also pass auf, das hat mir Ethan geschickt. Aus Barcelona.“ Finn griff nach einem Zettel und schaute drauf. “Ist das so 'ne Kopfhaltung? Oder vielleicht eher eins, zwei...“ Misti begann ein paar komische Bewegungen zu machen, also ging ich zu den beiden und riss ihnen den Zettel aus der Hand. “Zeig mal her. Die Notierung von Ethan ist ganz alte Schule. Er meint das so.“ Ich reichte Misti den Zettel und machte ihr die Bewegungen vor. Dabei zählte ich mit, damit sie mitkam. “Das kann ich auch.“, freute sich Misti und stellte sich in den Raum, doch die Bewegungen sahen überhaupt nicht so aus, wie sie aussehen sollten. “Du musst mit links anfangen.“, merkte ich an. Doch sie fing wieder mit rechts an. “Das andere links.“, sagte ich räuspernd. Misti hob ihre Hände und formte mit ihren Fingern jeweils ein L. “L steht für links.“ Entgeistert sah ich Finn an. Das konnte nicht sein ernst sein.

“Drehen, Step, Kick.“, wies ich an. “Drehen, Schulter, Schulter und“ Misti bekam es dann endlich nach Stunden hin. “Gut.“, sagte ich erleichtert. “Na endlich.“, lachte ich und stemmte die Hände in die Hüfte.
“15 Sekunden geschafft, 89 Minuten und 45 Sekunden vor uns.“, jubelte Finn.
“Oh mein Gott, ich fass es nicht, dass ich singen und tanzen muss. Und das gleichzeitig.“ Misti umarmte mich und sah mich an. “Danke.“ Sie strahlte mich so an, dass ich Angst hatte sie könnte explodieren. Belustigt sah ich dem Mädchen nach, wie es den Raum verließ. “Eine dreistische Castingauswahl.“, sagte ich sofort, als sie weg war.
“Ich bin eben etwas oberflächlich. Aber sie gibt sich große Mühe.“, antwortete Finn. “Meine erste Wahl hat mir ja einen Korb gegeben. Aber du kannst offenbar gut mit ihr umgehen. Du könntest mir wenigstens beim Einstudieren helfen.“
“Nein. Wenigstens werde ich gar nichts für dich tun.“, sagte ich und nahm meine Sachen.
“Ich brauch dich. Und Misti braucht dich.“
“Das Ballett braucht mich.“, widersprach ich und sah zu, wie Finn den Raum verließ.

“Wer möchte zuerst?“, fragte Zach am nächsten Morgen in die Runde. “Ich!“,sagte ich und hob die Hand. Das Training sollte sich bezahlt machen. “Isabella, los.“ Schnell stellte ich mich in Position und begann sobald die Musik losging. Zach saß auf seinem Stuhl und beobachtete jeden einzelnen Schritt. Als ich fertig war, lächelte ich ihn an. “Isabella, wir hatten schon darüber gesprochen. Wenn du weiterhin mit dem Kopf durch die Wand willst, wird die Wand gewinnen.“
“Okay, darf ich es nochmal versuchen? Bitte?“
“Gut, noch einmal.“
Schnell machte ich die Musik wieder an und begann zu tanzen. Plötzlich tanzte Grace mit mir, was mich etwas ablenkte, doch Zach ignorierte sie einfach. “Sehr schön, Bella. Du hast es fast drauf.“, sagte Grace und lächelte mich frech an. Zach erhob sich von seinem Stuhl und kam zu mir rüber. “Isabella, das Solo lässt dich schwer und fantasielos aussehen, was du nicht bist. Du klammerst dich an etwas, das deine Grenzen aufzeigt. Ich weiß nicht, wie deutlich ich noch werden muss.“ Enttäuscht ging ich an die Stange. Ich brauchte eine neue Choreografie. Nur war jemand, der mich und meine Grenzen kannte, nicht da.

Draußen versuchte ich Ethan zu erreichen, denn ich musste einfach mit ihm reden. Doch so wie immer, ging nur seine Mailbox ran. “Hola. Oder wie auch immer. Vermutlich kämpfst du gerade mit Stieren oder sowas. Vermutlich kannst du das richtig gut.“, lachte ich, doch das Lachen ging in ein Schluchzen über. “Ich habe nichts zu berichten, trainier für den Prix. Gut also dann.“ Schnell beendete ich das Telefonat und ließ meinen Tränen freien Lauf. Vielleicht war die Arbeit mit Finn ja eine gute Ablenkung. Also beschloss ich hinzugehen. Vorsichtig betrat ich den Proberaum. “Isabella! Eh wir diskutieren gerade Kostümideen. Proben den Text...“, erklärte Finn mir.
“Ich helfe nur beim Tanzen. Du kannst mir ewig dankbar sein.“, sagte ich und stellte meine Tasche auf einen Stuhl ab. Dummerweise schmiss ich dabei ein paar Zettel aus meiner Hand auf den Boden. Schnell fing ich an alles aufzusammeln. Finn half mir dabei. “Oh, kennst du etwa schon das ganze Skript?“, fragte Misti mich. Mein Blick wanderte zu dem Skript, in dem ich Stellen markiert hatte. “Fangen wir an?“, fragte ich und stellte mich nach vorne. Doch so sehr Misti es auch versuchte, besonders gut machte sie es nicht. “Das sieht etwas angestrengt aus. Das müssen wir vereinfachen.“, sagte ich.
“Ich kriege die Schritte aber drauf.“
“Ich weiß, aber es ist etwas zu schwer für dich. Es soll eigentlich so aussehen.“ Ich deutete Finn an, die Musik einzuschalten, was er auch ohne zu zögern tat. Dann machte ich die Schritte und sang den kleinen Part, der dazu gehörte. Als ich fertig war, fingen die anderen an zu klatschen. Finn sprang sofort auf, um zu mir rüber zu kommen. “Entschuldige, aber du bist gefeuert.“, sagte er zu Misti. Irritiert schaute ich ihn an. “Was, nein. Ich will die Rolle nicht. Du kannst Misti nicht feuern, nur weil sie kein Talent hat.“, stellte ich klar, doch das nächste überraschte mich. “Ja, ich spiele eigentlich nicht die Mia.“ Misti setzte sich ihre Brille auf und kam zu mir. “Oh endlich kann ich wieder was sehen.“
Finn lachte.
“Ich spiele die Regisseurin. In dem Stück. Also spielen, weniger singen und tanzen.“
“Ethan dachte, ein bisschen Konkurrenz würde dich überzeugen. Er sagte, du wärst perfekt und so ist es ja.“, erklärte Finn mir.
“Ihr habt mir was vorgespielt? Wie viel freie Zeit habt ihr eigentlich?“, fragte ich säuerlich.
“Wir sind arbeitslose Schauspieler. Wir haben viel Freizeit.“, sagte Misti und Finn nickte. Lachend schüttelte ich den Kopf.
Ich sollte aufhören die Naturtalente zu beneiden. Denn wenn jemandem etwas sehr leicht fällt, ist es wohl schwierig zu erkennen, ob man es wirklich will. Auch wenn es, egal, was es auch ist, besser zu einem passt als alles andere. Für mich ist das Tanzen sehr ähnlich wie die Liebe. Verbunden mit sehr viel Seelenschmerz, aber die Anstrengung lohnt sich.

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