50. Mehrmals gebrochen

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Marcus stand an seinen Schreibtisch gelehnt und unterhielt sich stirnrunzelnd mit meinem Vater. Warte,... was macht der denn hier?

Entgeistert blieb ich wie angewurzelt mitten in der Bewegung stehen. Beide unterbrachen das Gespräch und Dad kam auf mich zu. "Liv, Liebling, ich-", begann er und wollte mich umarmen. Ich stieß ihn weg, ging an ihm vorbei und setzte mich in die Mitte. "Marcus!?" flehte er schon fast. Mein Bruder hatte alles genau beobachtet und schien es gerade zu analysieren. "Aro, wir reden vor der Tür weiter!", sagte Marcus und stieß sich vom Tisch ab. Im Vorbeigehen flüsterte er mir noch ein "Bin gleich wieder da!" zu. Ich nickte und starrte aus dem Fenster, während Marcus Dad vor die Tür schob. Seufzend fuhr ich mir übers Gesicht und legte meinen Kopf auf meine Arme. Ich schloss meine Augen...

Die Tür öffnete sich und jemand betrat den Raum. Ich vernahm Schritte und ein Stuhl wurde neben mir zu Seite geschoben, ehe sich jemand darauf setzte. Ich zuckte zusammen, als sich eine Hand auf meinen Rücken legte und darüber strich. "Was ist los Liv?" fragte Marcus Stimme. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Keine Sekunde später schluchzte ich auf. "Liv, du kannst mit mir über alles reden! Ich will dir nur helfen, okay?" fragte er. Das gab mir den Rest und ich warf mich schluchzend in seine Arme. Er war sichtlich überrascht, fing sich jedoch sehr schnell wieder und schlang seine Arme um mich. Ich begann noch stärker zu weinen und ließ alles raus. "Marcus!" rief ich schluchzend und vergrub mein tränendes Gesicht in seiner Schulter. Er blieb ganz ruhig und hielt mich fest, während seine Hand beruhigend über meinen Rücken strich. "Hey Schwesterherz! Alles ist gut! Bitte weine nicht! Ich bin da! Ich passe auf dich auf, Liv!" sagte er und ich hörte deutlich die Besorgnis aus seiner Stimme. Schluchzend krallte ich mich an seinen Anzug und drückte mich weiter an ihn. "Sch! Liv, sch! Alles wird gut! Ich bin da! Caius ist auch da! Wir passen auf dich auf! Vertrau uns! Wir sind da! Ich bin da!" redete er beruhigend auf mich ein. Ich ließ mich fallen und ging auf seine Aussagen ein. Langsam beruhigte ich mich wieder und die Tränen ließen nach. Nun lag ich mit verweintem Gesicht und hochroten Augen erschöpft in den Armen meines Bruders. "Alles wird gut!" versicherte er mir ein letztes Mal. Ich nickte leicht und schloss erschöpft die Augen. Was war los mit mir? Das war nicht ich. Das war nicht die Liv, die ich kannte...

"Geht es wieder, Kleine?" fragte Marcus. Ich nickte und löste mich von ihm. "Willst du darüber reden?" fragte er mich vorsichtig und ließ eine Hand auf meinem Rücken. "Dad hat mich angeschrien!", flüsterte ich, "Und in seinen Augen war Wut. Marcus, er hat mir Angst gemacht!" Mein Bruder legte mir seine Hände auf die Schultern und drehte mich zu sich um. Ernst und besorgt sah er mir in die Augen und ich in die seinen. "Liv!" begann er, "Ich kann verstehen, dass er dir Angst gemacht hat. Aber das wollte er keinesfalls tun. Dein Vater hatte es nicht immer leicht in seinem Leben. Ihm wurden viele Steine und Hürden in den Weg gelegt. Er hat sie zwar überwunden, aber das hätte er nicht ohne Hilfe geschafft. Deswegen regieren wir. Deswegen passen wir aufeinander auf. Deswegen beschützen wir und unsere Familie uns! Verstehst du? Er kann es dir bestimmt erklären, aber bitte lass ihm Zeit und zwinge ihn zu nichts. Dein Vater wurde mehrmals gebrochen. Das eine Mal stärker als das andere. Und er ist jedes Mal wieder aufgestanden. Er möchte dich davor bewahren. Er lässt nicht zu, dass dir das Gleiche passiert. Er liebt dich so unglaublich stark!" Fassungslos sah ich meinen Bruder an. "Dad wurde-", ich brach ab. Er tat mir unglaublich Leid in diesem Moment. "Marcus wieso...", schluchzte ich und die Tränen kamen wieder hoch. "Das kann ich dir nicht sagen. Aber das Leben ist nicht fair Liv! Das musste er früh lernen. Vielleicht um ihn auf das Leben und den Umgang mit dir vorzubereiten. Ein Teenager ist anstrengend. Gerade für den Vater!" grinste Marcus und lockerte die Stimmung. Ungewollt zuckten meine Mundwinkel nach oben. "Liv, da du mir zugehört hast, bitte ich dich nur um eines. Höre ihm nachher auch zu. Du weißt jetzt warum er laut geworden ist. Aber es war nicht seine Absicht. Er wollte dir keine Angst machen und dich schon gar nicht verletzten! Bitte hör ihm zu!" bat Marcus mich. Ich seufzte, nickte dann dennoch schlussendlich. "Aber nur wenn du mitkommst!" stellte ich die Bedingung auf. "Ich wollte dich sowieso zu ihm bringen. Sonst kommst du da im Klassenraum nicht an und schwänzt Latein!" grinste er. "Haha! Als ob ich das machen würde!" meinte ich sarkastisch. Marcus sah mich mit einem Ist-das-Dein-Ernst-Blick an. "Na gut, vielleicht hätte ich die Stunde ausfallen lassen!" gab ich mich geschlagen. "Ich wusste es!" lachte er.

Marcus ging wieder nach vorne, nachdem er mir einen Kuss gegeben hatte, und begann. Mit was? Mit Unterricht! Er meinte, dass wir dennoch eine Stunde Geschichte machen müssten, auch wenn wir es nicht zu Philosophie geschafft hätten. Ich seufzte und starrte gerade aus. Dad hatte mein Handy... Und das kränkte mich. Wieso musste er es mit auch wegnehmen? Von einer Sekunde zur Nächsten verschwand mein Mitleid und wandelte sich in Wut um. Er. Hatte. Mein. Handy!

Endlich! Ich hatte die Geschichtsstunde überlebt. Schnell schnappte ich mir meine Tasche und versuchte noch aus dem Raum zu flüchten. Gerade als ich dachte, ich hätte es geschafft, packte mich eine Hand am Oberarm. "Ich wusste, dass du keine Lust auf Latein hast!" grinste Marcus mich an und zog mich nach oben. Auf der 3. Etage angekommen zog er mich weiter zu Dads Raum. Die Tür stand offen, doch ich wollte da nicht rein. Ich blieb stehen und zerrte an Marcus Griff. "Marcus, ich hab keinen Bock auf Latein. Lass mich los!" versuchte ich es und zappelte rum. "Wer hatte Recht?" murmelte Marcus zu sich selbst, bevor er nach meinem anderen Arm Griff und mich festhielt. "Liv!" warnte er...

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