Kapitel 58

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Entschlossenheit und Mut spiegelten sich im Ausdruck des riesigen steineren Pferdes. Es erhob sich auf seinen kräftigen Hinterläufen, den starken Hals gestreckt, den Mund zu einem stummen Wiehern aufgerissen. Wie als wäre es gerade durch die Wand gebrochen, bereit sich allem entgegenzustellen, was auch immer es erwarten würde. Mit spitz nach vorne gerichteten Ohren bestaune Nyria die mehrere Pferdelängen hohe Statue am anderen Ende der Haupthalle der Festung. Unter dem anmutig erhobenen Vorderbeinen saß ein kräftiger dunkelbrauner Hengst auf einem hohen Stuhl. Er war bereits etwas älter, doch strahlte immernoch eine unglaubliche Energie aus. Die Autorität seiner Anwesenheit war im gesamten Saal zu spüren. Sein kantiges Gesicht war starr auf die Pferde vor ihm gerichtet, die sich durcheinander unterhielten. Der oberste Wächter selbst war still. Links und rechts von ihm standen jeweils drei weitere Pferde. Die Muskeln angespannt und den Kopf erhoben postierten sie sich wie Wachen an seiner Seite, kontrollierende Blicke über die Menge schweifen lassend.

Die Präsenz des obersten Wächters hatte Nyria beim ersten Schritt in die Haupthalle in ihren Bann gezogen. Ihre beiden Leben waren so unterschiedlich. Während er an der Spitze des Königreiches saß, war Nyrias Platz am unteren Ende. Und alles hier führte ihr das so deutlich wie noch nie vor Augen. Beeindruckt ließ sie ihren Blick weiter schweifen. Die weinroten Wände waren mit goldenen Ornamenten verziert, Waffenhalter präsentierten die unterschiedlichen Waffen, von denen die Stute die Meisten nicht einmal benennen hätte können. Lange schwere Tische aus Schwarzeichenholz zogen sich über den Mamorboden. An ihnen saßen mehr Pferde als Nyria überhaupt zählen konnte. Sie tranken Bier und edlen Wein aus den Gärten Phayeas. Das Essen wurde von ein paar Dutzend Dienerinnen und Dienern serviert, die ununterbrochen zwischen den Kriegern unherwuselten. Die verschiedensten Gerichte und exotischsten Speißen wurden aufgetafelt. Und jeder Teller legte seinen eigenen Geruch in die Luft, sodass der Raum erfüllt war vom einzigartigen Duft des Essens.

Doch was Nyria wohl am meisten beeindruckte war die Decke des Saals, die sich in größerer Höhe als der größte Baum den Nyria je gesehen hatte, über dem Boden aufspannte. Gewaltige goldene Kronleuchter  hingen mit einem Duchmesser von bestimmt mehreren Pferdelängen, wie schillernde Tannenzapfen von der Decke. Tausende Kerzen hüllten die Decke in ein warmes Licht und ließen ihre Farben leuchten. Kunstvolle Gemälde zogen sich über die gesamte Länge, detaillierter und aufwändiger als Nyria es jemals für möglich gehalten hätte. Diese Malereien überschritten die der alten Kirche und selbst die des großen Sonnentempels von Ajagara, der Hauptstadt Cateas.

Mehrere Szenen erstreckten sich weitläufig über den Stein. Die mittlere Zeigte Sonne, Mond und Erde. Auf der Seite der Sonne standen Licht, Fruchtbarkeit und Glück. Dem gegenüber reihten sich Dunkelheit, Zerstörung und Verzweiflung hinter dem Mond. Zwei Brüder die sich gemeinsam um die Heimat der Pferde kümmern sollten, aber in einen Streit geraten waren, der die Welt entzweien sollte. Ohne Probleme war die Schöpfungsgeschichte zu erkennen, die sich im Zentrum der Deckenmalerei befand. Das Zentrum aller Geschichten. In einem Kreis waren darum herum weitere Bilder, die die Geschichte Cateas spiegelten. Die Stute konnte erkennen wie Sir Estador über dem Kopf des Obersten Wächters die Festung alleine gegen ganze Armeen verteidigte und das Blut seiner Feinde den davor liegenden See rot färbten. Daneben Kämpfte Heron gegen das schreckliche Wilderbiest, ein gigantisches wildschweinartiges Wesen mit Hörnern, das mit seinen Hufen den Boden spaltete. Ganze Schlachten fanden auf dem Deckengemälde bis heute und in die Ewigkeit statt. Überwältigt legte Nyria die Ohren nach hinten und musterte mit leicht offenem Mund die bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Pferde. Die meisten Geschichten waren der Stute bekannt, wenn auch nicht alle. Wie ungemein gerne würde sie die Geschichten zu den Bildern hören, die ihr nichts sagten.

Nachdem sie einigermaßen hatte lesen können, hatte sie solche Geschichten geradezu verschlungen. Die Vergangenheit Cateas und der anderen sechs Königreiche faszinierten die Stute, die bis vor dem Beginn der Ausbildung nicht mal von der Existenz einiger Königreiche in Miträa gewusst hatte. Sie beinhalteten die Schicksale von Helden, ihre Siege und ihr Scheitern. Aber auch ruhmreiche Schlachten und furchtbare Katastrophen. All das hätte sie als Streuner nie erfahren. Sie war damals so unwissend gewesen, hatte nie darüber nachgedacht was genau es da draußen noch gab. Diese Bilder riefen wieder dieses starke Gefühl in Nyria hervor. Eine Sehnsucht nach dem, was sie nie hatte. Nach einem Leben in dem es nicht darum ging sich darum zu kümmern irgendwo die nächste Mahlzeit zu stehlen. Sondern in dem es um etwas Größeres ging, etwas für das es sich zu kämpfen lohnte. Nyria richtete den Blick auf den dunkelbraunen Hengst der ihr gegenüber am anderen Ende der Halle gerade aufstand. Heute hatte sie es.

Nyria - Kriegerin der Garde Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt