"Ihr habt eine Tochter?", fragte Nyria überrascht und skeptisch zugleich.
"Ja... Ich... Ich dachte sie wäre schon vor langer Zeit verstorben, doch... ich habe erst vor kurzem erfahren, dass ich damit wohl falsch lag.", sagte Sayero müde und hiefte sich schließlich nach oben. Er zitterte unter der Anstrengung aufzustehen. Und als er dann aufrecht vor Nyria stand und sie überragte, festigte die Stute instinktiv ihren Griff um das Schwert, das sie noch immer bei sich hatte.
"Ich möchte nur zu ihr. Sie liegt in einem versteckten Raum hier in der Bibliothek.", versuchte der Hengst Nyria zu beschwichtigen. Die Stute überlegte für einen Moment. Doch mittlerweile war sie sich eigentlich sicher, dass sie nichts mehr vor Sayero zu befürchten hatte. Der Hengst wirkte ohnehin plötzlich nur noch alt und schwach. Mit seinem Kampfgeist hatte er genauso plötzlich auch seine Kraft verloren. Und wahrscheinlich auch seine Hoffnung.
"Hier lang.", sagte er und folgte einem langen Bücherregal bis zu einer kleinen Niesche. Dort drückte er mit den Nüstern eine Holzplatte in der Wand ein, woraufhin ein dumpfes Klicken zu hören war. Unbehagen breitete sich in Nyria aus und sie machte vorsichtshalber einige Schritte zurück. Doch alles was geschah war nur, dass eines der Bücherregale sich von der Wand löste und einen schmalen Durchgang zum Vorschein brachte. Sayero nickte Nyria entgegen und verschwand darin. Die Stute atmete tief durch und folgte ihm.Sie betrat einen kleinen Raum, der nur von einem einzelnen, winzigen Fenster erleuchtet wurde, das meiste Licht drang durch die offene Türe aus der Bibliothek hinein. Die dicke Luft lag schwer im Raum und roch nach altem Holz und Staub. Doch auch ein anderer schwacher, bekannter Geruch stach Nyria in die Nüstern. Er war fast unmerklich, aber dennoch roch er zugleich einerseits scharf und unangenehm, auf der anderen Seite hatte er etwas blumiges, fast wie ein Parfum. Es war der gleiche Geruch, den sie auch schon in einem der Karren wahrgenommen hatte, mit denen Sayero zu dieser Burg kommen war. Zwar war der Geruch hier viel schwächer, doch Nyria hatte keine Zweifel. Aber so bekannt ihr dieser Geruch auch vorkam, sie konnte sich nicht entsinnen woher sie ihn kannte. Lange dachte sie aber auch nicht darüber nach, denn ihre Aufmerksamkeit wurde auf etwas anderes gelenkt. In der Mitte des Raumes stand ein provisorisches Strohbett. Und darauf lag eine Stute. Nyria erkannte sie sofort. Es war die Stute, die Sayero und die anderen Hengste gegen ihren Willen auf den Karren geladen hatten! Deren Schreie sie überhaupt erst von der Endprüfung weggelockt hatten. Es war also Sayeros Tochter gewesen... Aber warum hatten sie sie gewaltsam entführt? Als Nyria die Stute näher betrachtete, fiel ihr allerdings auf, dass sie sich verändert hatte. Sie hatte die Augen geschlossen, das Fell war komplett durchnässt, und sie zitterte am gesamten Körper wie ein dünner Ast während eines heftigen Sturmes. Doch was Nyria am meisten überraschte, war die Farbe ihres Fells.
"Eine Streunerin?", fragte Nyria überrascht und richtete ihren Blick auf Sayero, der nur besorgt seine Tochter betrachtete. Ihr Fell war zum größten Teil schneeweiß, doch sie war kein Schimmel. Es war eine große Scheckung, die nur Teile ihres Gesichtes und einige kleine Stellen am Körper ausließ, sodass das ihr braunes Fell zum Vorschein kam.
"Ja, so wie ihre Mutter es war.", sagte Sayero.
"Ihr und eine Streunerin...", murmelte Nyria ungläubig und versuchte zu verstehen, wie der Hengst, der von allen Kriegern in der Garde, die Streuner wohl mit am meisten hasste, eine Familie mit einer solchen gründen sollte. Ein leidendes Lachen löste sich aus Sayeros Kehle.
"Ich weiß... es mag absurd klingen. Doch damals war einiges anders. damals war ich so viel naiver.", der Hengst schnaubte und machte eine kurze Pause, bevor er seinen Blick von der Streunerin zu Nyria schweifen ließ.
"Du weißt ja wie die Leute von den Streunern reden. Man soll ihnen nicht trauen, oder ihnen überhaupt nahe kommen. Nunja, damals dachte ich, dass ich es besser wüsste. Dass es nicht wahr sein konnte, was sie alle über die Streuner sagten. Seelenlose Wesen... Ha, Liebe macht wohl wirklich blind für die Dinge...", Sayero hielt inne, er schien für einen Moment in Erinnerungen gefangen zu sein, bis er schließlich fortführte, "Ich habe mich damals in eine Streunerin verliebt. Ihr Name war Kalya, sie war die schönste und liebevollste Stute, die ich je kennen gelernt hatte. So dachte ich damals zumindest. Wir wollten gemeinsam Catea verlassen, damit wir zusammen ein neues Leben anfangen konnten, irgendwo wo sie als normales Pferd angesehen worden wäre... Denn sie erwartete unser Fohlen. Und aus diesem Grund mussten wir uns beeilen. Denn ich wollte unbedingt bei ihnen sein. Ich hielt unsere Beziehung geheim, als Krieger der Garde wäre es eine Katastrophe gewesen, wenn jemand davon erfahren hätte... ich habe wirklich mein Bestes gegeben, dass keiner etwas davon mitbekam. Aber so kam es. Ein Hengst aus der Garde sah mich eines Tages mit ihr. Ich habe es nicht einmal mitbekommen, dass wir aufgeflogen waren. Doch dieser Hengst konnte mich nicht melden, weil er mich nicht erkannt hatte. Also hat er Kalya hinter meinem Rücken Geld geboten, um mich zu verraten.", der graue Hengst schnaubte verächtlich, "Nur drei Goldmünzen waren nötig gewesen und sie hat ihnen alles erzählt. Ich weiß nicht was sie ihr alles versprochen haben, aber statt dem hat sie nur den Tod bekommen. Sie haben sie erstochen und mir ihre Leiche vor die Hufe gelegt. Ausgelacht haben sie mich. Wie ich einer Streunerin nur hätte vertrauen können. Mich haben sie anschließend so zugerichtet, dass mein Bein amputiert werden musste. Danach hatte ich verstanden, warum die Leute das sagten was sie über die Streuner sagten...", brachte Sayero schließlich mit mit leerem Gesichtsausdruck hervor.
"Und eure Tochter?", fragte Nyria vorsichtig.
"Ich wusste nicht, dass unsere Tochter schon auf Welt gewesen war, als sie Kalya getötet haben... sie hat damals überlebt. Und ich wusste es nicht und habe sie diesem furchtbaren Leben als Streuner überlassen.", Sayero zog den Kopf an seiner Brust und kniff die Augen zusammen. Er musste furchtbare Schuldgefühle haben. Nyria war Empathie etwas ziemlich Unbekanntes, aber selbst sie spürte seinen Schmerz bis tief in ihre Knochen.

DU LIEST GERADE
Nyria - Kriegerin der Garde
PertualanganHunger. Gewalt. Hass. Mit all diesen Dingen und noch mehr hat Nyria schon seit ihrer Geburt zu kämpfen. Die junge Stute lebt als Streunerin in der Untersten der sechs Stände, die es im Königreich Catea gibt. Doch dieses Leben wird immer schwerer und...