Kapitel 52

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Nyria biss müde in ihre Brotscheibe. Eigentlich hatte sie gar keinen Hunger. Viel mehr drehte sich ihr der Magen beim Gedanken an Essen eimal um. Aber es war der letzte Tag vor der großen Endprüfung, die entscheiden würde, ob sie Kriegerin werden würde oder nicht. Also musste sie sich stärken. Daher hatten fie Auszubildenden den heutigen Tag auch komplett frei, um noch einmal zur Ruhe zu kommen und Kräfte zu sammeln. Die bevorstehende Prüfung war auch der Grund gewesen, wegen dem Nyria die letzte Nacht fast kein Auge zugemacht hatte. Sie seuftze als die Gedanken wieder begannen rastlos durch ihren Kopf zu rasen. Eineinhalb Jahre hatte sie auf diese Prüfung trainiert. Und sich schon Jahre zuvor darauf vorbereitet. Diese Prüfung würde alles entscheiden. Und sie hatte unheimliche Angst davor, wieder zurück in ihr altes Leben zu müssen. In die Gosse, in der Krankheit und Hunger das Leben bestimmten. Zu versagen war also keine Option. Aber was sollte sie tun, wenn sie es dennoch tat? Wenn sie schwimmen müsste? So häufig hatte sie sich darüber nun schon den Kopf zerbrochen und je mehr sie darüber nachdachte desto größer wurde die Verzweiflung. Doch mittlerweile war sie fast einem Punkt angekommen, an dem ihr Herz fast taub geworden war und das stechen in ihrer Brust bei diesen Gedanken nur noch dumpf zu spüren war. Es war einfach zu viel. Zu viel das an dieser einen Prüfung hing, als dass Nyria es richtig fassen konnte.

"Du solltest das Brot auch essen und es nicht nur anstarren.", sagte Naur freundlich und lächelte Nyria aufmunternd an. Er war der einzige der wirkte, als hätte er gute Laune, während Alerias Blick nervös hin und her huschte und Elana sich angespannt auf ihr Frühstück konzentrierte. Dafür bewunderte Nyria den Dunkelfuchs ehrlich. Es war wirklich egal was passierte, er war immer fröhlich und optimistisch. Es war nur einmal vorgekommen, dass sie ihn wirklich niedergeschlagen gesehen hatte. Er hatte während der letzten Tage seines Praktikums bei der Stadtwache sehen müssen, wie einige sehr junge Straftäter hingerichtet worden waren, was ihn ziemlich mitgenommen hatte. Aber selbst davon hatte er sich schnell wieder erholt und war zu seiner üblichen Fröhlichkeit zurückgekehrt.

Ein leichtes Lächeln legte sich nun auch auf Nyrias Lippen. Er war das gerade Gegenteil von ihr. Oder zumindest von ihr bevor die Ausbildung begonnen hatte. Sie war selten, wenn eigentlich fast nie glücklich gewesen, bis sie hier her gekommen war. Diese Ausbildung hatte ihr so viel mehr beigebracht als nur zu Kämpfen.

Plötzlich schwang die Tür zum Speisesaal mit einem lauten Knall auf und eine Stute kam herein gestürmt. Die Palominostute stand mit vor Schreck aufgerissenen Augen auf zitternden Beinen. Ihr Atem ging ruckartig. Verwirrt drehten sich die Pferde zu der Stute, die leise vor sich hinmurmelte und immer lauter wurde.
"Er hat... warum... an der Klippe! Er liegt an der Klippe. Und...", ihre Stimme brach und ihre Augen wurden glasig vor Tränen. Ein Zucken ging durch ihren Körper und sie musste sich sichtlich ein Würgen verkneifen.
"Was ist passiert?", ein Krieger kam zu ihr getrabt und blickte ihr ernst in die Augen.
"Er ist tot.", sagte sie und mit diesen Worten verkrampften sich ihre Muskeln, "Er ist tot!"
Nyria blickte verwirrt zu Naur, aber er erwidere nur ihren fragenden Blick. Als die Palominostute schließlich gemeinsam mit dem Krieger den Saal eilig wieder verließ, folgten ihnen einige Pferde. Auch Elana stand auf und trabte hinterher.
"Na kommt!", forderte sie die anderen auf, während sie zur Tür lief, "Ich will wissen was da los ist." Als Alerias ebenfalls aufstand taten Nyria und Naur es ihm gleich. Sie folgten den anderen über den großen Platz aus der Burg hinaus zum Abhang, über den Fort Mathar gebaut war. Dort standen bereits einige Pferde und blickten geschockt hinab.

Als Nyria näher kam, stach ihr der mittlerweile viel zu gut bekannte Geruch nach Blut und Tod in die Nüstern. Mit vorsichtigen Schritten näherte die sich der Kante. Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Hinterbeine und streckte den Kopf nach vorne um den Blick nach unten richten zu können. Erschrocken sog sie die Luft ein. Ein oder zwei Baumlängen unter ihnen lag ein brauner Hengst auf einem Vorsprung. Der Fels schimmerten im Sonnenlicht blutrot. Nyria hatte in ihrem Leben schon viele Leichne gesehen, doch das... Das machte selbst ihr zu schaffen. Sie wollte den Blick abwenden, doch der geschundene Körper zog sie in seinen grausamen Bann, ihr Blick fror auf dem Pferd fest. Da war so viel Blut... So unfassbar viel Blut... die Beine waren seltsam verdreht. Ein Knochen stand aus dem Fleisch heraus wie ein toter Baumstumpf aus dem Boden. Der Kopf hing halb über der Kante zum Abgrund. Und trotzdem konnte man das verzerrte Gesicht des Hengstes sehen. Das Maul, geöffnet zu einem letzten, stummen Schrei. Die weit aufgerissenen Augen, die im Angesicht des Todes eingefroren waren und nun voll grauen Richtung Himmel starrten. Es wirkte wie eine Szene aus einem Alptraum. Aber vor allem ein Gefühl ließ Nyria nicht los. Eine Art Vertrauen, das der Stute fast mehr Angst machte als der Anblick selbst. Bis es ihr endlich klar wurde. Sie wusste wer da unten lag. Es war Eson.

Nyria - Kriegerin der Garde Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt