Kapitel 55

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Abrupt blieb Nyria stehen, sodass ihre Knochen unter dem plötzlichen Halt ächzten. Die Stute hielt den Atem an. Mit weit aufgerissenen Augen und nach vorne gerichteten Ohren starrte sie in den Wald. Sie achtete auf jedes Geräusch. Auf einmal konzentrierte sich ihr gesamter Verstand auf die Bäume vor ihr. Sie hatte die schmerzenden Muskeln angespannt, bereit für alles, was auch immer geschehen sollte. Doch außer dem Gesgang einiger Vögel war nichts weiter zu hören, genauso wenig konnte sie etwas sehen. Nach einiger Zeit seufzte Nyria und drehte den Kopf wieder vom Wald weg. Sie musste sich verhört haben... ihre Ohren spielten nach dem Sturz wohl noch ein wenig verrückt. Um ihre Gedanken wieder zu ordnen schüttelte sie kurz den Kopf.

Doch bevor sie auch nur einen weiteren Schritt machen konnte, kam ein erneuter Schrei aus dem Wald. Er war kürzer als der erste, aber Nyria war sich nun sicher. Irgendetwas ging dort vor. Sie biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich sollte sie dem Fluss folgen. Nicht nur eigentlich, sie musste. Immerhin war es die Abschlussprüfung. Sie konnte es sich nicht erlauben zu versagen. Aber wenn dort jemand in Not war... war in solchen Situationen zu helfen nicht genau die Aufgabe der Garde? Die Stute seufzte. Nur kurz, sie würde nur ganz kurz nachsehen was dort los war. Und dann würde sie schnellst möglich wieder zum Fluss zurück kehren und keine Zeit verlieren weiter zu gehen. Sie zögerte noch kurz und schaute sich einmal um, dann gab sie sich einen Ruck und trabte in den Wald. Weg vom Fluss. Weg von der Strecke der Endprüfung.

Nyria hob ihren Kopf in die Höhe und witterte. Doch außer Blättern und Moos konnte sie nichts außergewöhnliches ausmachen. Sich ununterbrochen umsehend schlich sie auf leisen Hufen über den Waldboden. Bis ihr schließlich ein dumpfer, kaum hörbarer Schrei den Weg wies. Es klang, als würde jemand einem Pferd den Mund zuheben. Angespannt folgte Nyria zügig dem Geräusch. Langsam wurde ihr mulmig. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen dem Schrei zu folgen. Immerhin hatte sie keine Ahnung was sie erwartete... Vielleicht sollte sie doch besser wieder umkehren.

Doch bevor sie einen Entschluss fassen konnte, sah Nyria zwischen den Bäumen die Stute. Obwohl sie damit gerechnet hatte hier jemanden vorzufinden, beim Anblick der Pferde stockte ihr der Atem. Erschrocken duckte sie sich ins Unterholz. Einige Pferdelängen vor ihr standen ein paar Pferde zusammen neben zwei Planwägen, die mit je einem Rind bespannt waren. Einer der Hengste, ein stattlicher Dunkelbrauner, hielt eine gefesselte Stute fest an sich gedrückt. Ihr Maul war mit einem Seil zugebunden, sodass sie nur noch klägliche Laute von sich geben konnte. An ihrer Kehle glänzte ein kleiner, silberner Dolch. Eine große Scheckung zierte das Fell der Stute, nur an wenigen Stellen war braunes Fell zu sehen. Sie war also ein Streuner.

Der Hengst wechselte aufgebracht einige Worte mit jemandem, doch Nyria konnte weder verstehen was er sagte noch sehen mit wem er redete. Für einen Moment verharrte sie und überlegte kurz. Schließlich schlich sie mit zitternden Beinen etwas weiter, um auch noch die anderen Hengste sehen zu können. Wenn Sie jetzt schon hier war, musste sie wenigstens wissen wer dort stand. Es handelte sich um den Fuchs, den sie damals mit dem Falben belauscht hatte, als sie über den Mordplan gesprochen hatten. Nyria stellten sich die Haare auf und eine ungute Vermutung machte sich in ihr breit. Noch ein paar Schritte und sie konnte den dritten Hengst erkennen. Es war Ein leicht gräulicher Schimmel. Aber nicht irgendeiner. Der Hengst der dort stand war Scar Sayero. Das klotzige Holzbein das eines seiner Hinterbeine ersetzte ließ keinen Zweifel. Nyria erstarrte. Sayero. Was hatte er hier zu suchen? Mit einem gefesselten Streuner. Nyria schloss die Augen und blähte mit angelegten Ohren ihre Nüstern auf. Sie konnte es nicht glauben, auch wenn ihr schon längst klar war was hier vor sich gehen musste.

Sayero gehörte also wirklich der Seite an, deren Plan es war die Streuner auszurotten. Er würde den obersten Wächter töten, so wie sie es zu Beginn ihrer Ausbildung unabsichtlich mitgehört hatte. Danach wäre dank des neuen obersten Wächters der Weg für das Gesetzt zur Beseitigung der Streuner geebnet. Nie hätte sie gedacht das Sayero das wirklich tun könnte. Sie hatte den Hengst während ihrer Ausbildung gut kennen gelernt. Er war ein miesepetriger, grummeliger Hengst der eigentlich meistens schlechte Laune hatte. Aber nach einiger Zeit hatte sie verstanden, das unter der hatten Schale ein freundliches Gemüt steckte, das sich um andere sorgte und mitfühlend war. Selbst nach Esons Tod hatte sie noch Hoffnung gehabt, das er nichts mit all dem zu tun hatte. Doch nun stand er hier und hatte alle Zweifel und Hoffnungen auf einmal aus der Welt geräumt. Sie hatte sich also im ihm getäuscht. Hatte sich in Scar Sayero getäuscht. Denn kein Pferd mit nur einem Funken Mitgefühl wäre zu so etwas fähig...

Nyria - Kriegerin der Garde Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt