Kapitel 42

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Nyria trabte über den großen Platz der Burg. Sie hielt sich nah an den Häusern, im Schatten der Gebäude, um möglichst nicht aufzufallen. Ihr Herz raste, ihre Nüstern blähten sich im Takt ihres Atems auf. Ihr Fell war noch immer komplett durchnässt. Es hatte sie einiges an Zeit gekostet, aus dem Wald wieder heraus zu finden. Zwar war ihr Orientierungssinn zwischen den Bäumen gut ausgeprägt, doch ihre Gedanken waren noch immer viel zu durcheinander. Die Statue, der Scheiterhaufen und diese Worte... die sich so tief in ihren Kopf gebohrt hatten... Nyria schüttelte energisch den Kopf. Die Erinnerungen plagten ihre Seele, obwohl das was geschehen war sich jetzt schon mehr wie ein verschwommener Traum anfühlte. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und warf lange Schatten auf den Boden. Hektisch blickte sich die Stute um. Mittlerweile hatte sie begriffen, was genau sie eigentlich getan hatte. Sie hatte das Schwimmtraining geschwänzt. Sie hatte gegen die Regeln verstoßen. Und so sehr die Stute auch versuchte, es zu verdrängen, wusste sie doch genau was das für sie bedeutete... Es war das Ende ihrer Ausbildung. Und so war es ein letzter, verzweifelter Versuch unbemerkt zu ihrem Schlafplatz zu kommen. Vielleicht hatten sie ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt. Vielleicht war es ihnen nicht so wichtig. Vielleicht könnte sie sich aus der Angelegenheit rausreden. Vielleicht... es war nicht viel Hoffnung, die ihr blieb. Und sie schwand auf ein kaum sichtbares Fünkchen, als plötzlich ein brauner Hengst mit hoch erhobenen Kopf wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte und direkt auf die Stute zukam.

"Hey, Streunerin.", sprach er sie kühl an. Nyria blickte ihm erschrocken entgegen. Ihr ganzer Körper ging unwillkürlich in eine leicht geduckte Haltung.
"Du hast beim Schwimmtraining gefehlt.", sagte er ruhig, wie als würde er jedes Wort genießen. Der Hengst betrachtete Nyria, wie als würde er auf eine Antwort warten. Sie überlegte fieberhaft, was sie ihm entgegnen sollte. Doch sie schaffte es nicht einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf herrschte noch immer eine einzige große Unordnung, ihre Gedanken rasten wie eine Horde wilder Hasen durcheinander. Und so fuhr der Braune fort:
"Da du plötzlich gefehlt hast, müssen wir davon ausgehen, dass du dich ohne Erlaubnis vom Unterricht entfernt hast. Ich hoffe du weißt, welche Strafe darauf steht?"
Es war eindeutig eine rhetorische Frage, doch Nyria antwortete dennoch. Sie musste alles tun, um diese Ausbildung nicht zu verlieren. Aber die Verzweiflung, die in ihr hochkochte, lähmte ihren gerade sowieso schon aufgelösten Verstand nur noch weiter.
"Ich weiß... Aber ich habe nicht geschwänzt! Ich... ich... habe im Wald die Gruppe aus den Augen verloren. Ich habe den Weg nicht mehr gefunden... und dann... dann hab ich mich im Wald verirrt! Ich habe bis jetzt gebraucht... gebraucht um zurück zu finden...", gegen Ende wurde die Stimme der Stute immer schwächer. Sie merkte selbst, wie unfassbar unglaubwürdig sie klang.
Und genau so blickte sie auch der Hengst an.
"Ha! Du kannst mir nicht erzählen, dass sich ein Streuner in den Wäldern verirrt?", der Hengst schnaubte belustigt, "Als ich hörte das ekne Streunerin an der Ausbildung teilnimmt hatte ich gedacht das sie früher ider später umkommt... Aber das! Haha... das ist schon mehr als armselig...", er lachte hämisch. Doch auch wenn Nyria sich nun beruhigen müsste um wenigstens etwas sagen zu können, fühlte sie gerade nichts außer Verzweiflung.
Ihr rasender Puls ließ ihr Herz fast bersten, während ihr Magen sich drehte. Alles brach zusammen... was hatte sie nur getan!? Warum hatte sie nicht länger nachgedacht? Oder überhaupt nachgedacht!? Es war so leichtsinnig gewesen diesem Hengst einfach zu folgen, um so dem Fluss zu entkommen...
Sie hatte damit alles zerstört. Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie ihre Zukunft schwarz wurde... Sie hatte versagt. Die Ausbildung zum Krieger war ihre letzte Hoffnung gewesen. Ihre einzige Hoffnung. Und nun musste sie also zurück auf die Straße? Bei dem Gedanken daran wurde ihr übel. Das Leben als Streuner wurde in letzter Zeit immer schwieriger. Immer mehr Pferde wurden denen gegenüber, die der untersten Schicht angehörten, immer brutaler, immer unbarmherziger. Ihre Beine zitterten.
"Bitte...", hauchte sie kraftlos. Ihr Kopf hing kurz über dem Boden, ihr Blick war starr auf den Boden gerichtet. Eine Träne hinterließ einen dunklen Fleck auf dem Sand.
"Es tut mir leid. Aber wenn gegen die Regeln verstoßen wird, können wir keine Ausnahme machen.", entgegnete er selbstzufrieden " und für dich heißt das, dass du gefälligst jetzt sofort-"

"Hey!", eine tiefe, feste Stimme unterbrach den Krieger. Ilano. Nyria drehte ihre Ohren und hob den Kopf ein kleines Stück nach oben, sodass sie die beiden Hengste sehen konnte.
"Was ist hier los?", fragte der Rappe mit einem flüchtigen Blick auf Nyria, bevor er sich wieder komplett dem Krieger zuwand. Dieser senkte den Blick und antwortete.
"Diese Anwärterin war vorsätzlich nicht beim Schwimmunterricht anwesend, eure Hoheit. Ich habe ihr nur soeben erklärt, das sie daher die Ausbildung unverzüglich zu verlassen hat."
"Mh...", machte Ilano und schwieg für einen Moment, "Sagt mir, Serr Gohan... Ihr habt doch Augen im Kopf nicht wahr? Also könnt ihr wohl ganz offensichtlich erkennen, dass diese Stute eine Verletzung trägt. Mit einer Verletzung begiebt man sich nicht in einen Fluss, wenn diese heilen soll. Also ich hätte erwartet, dass euch bewusst ist, dass Wunden und Wasser keine gute Kombination sind. Also hat Scar Katjero sie mit Sicherheit vom Schwimmunterricht entschuldigt.", schnaubte der Rappe. Seine Augen durchbohrten den Braunen geradezu.
"Aber das Schwimmen ist doch für die Endprüfung wichtig...", setzte er an, doch Ilano ließ keinen Wiederspruch zu.
"Sie ist entschuldigt, habe ich mich klar ausgedrückt? Für diesen und für jeden zukünftigen Schwimmuntereicht. Oder wollt ihr mir etwa widersprechen?", der Prinz hob den Kopf und blickte herausfordernd auf den Hengst herab. Ilanos Atem ging kräftig und ruhig, doch sein gesamer Körper war angespannt. Und auch wenn er in höflichem Ton sprach, lud seine Ausstrahlung die umliegende Luft mit Energie, sodass Nyria unmerklich einen Schritt zurück wich. Und auch der Hengst verbeugte sich nun gehorsam.
"Natürlich nicht, mein Prinz."
Ilano entspannte sich wieder und sofort war die Anspannung aus der Luft gewichen.
"Dann könnt ihr nun gehen." Der Hengst nickte und machte sich in einem eiligen Schritt davon. Nun wandte sich Ilano zum ersten mal völlig der Stute zu. Er musterte sie kurz, sein Fell zuckte fast unmerklich, bevor er ihr in die Augen sah. Doch in seinem Blick lag nur eine plötzliche eisige Kälte, die Nyria das Blut in den Adern gefrieren ließ.
"Und du verschwindest jetzt lieber.", sagte er nüchtern und ging ohne einen weiteren Blick an ihr vorbei.

Nyria blickte Ilano völlig überrumpelt hinterher. Was hatte er da gerade getan? In der Stute wuchs eine Mischung aus Dankbarkeit Verärgerung, wie er einfach über ihren Kopf hinweg über ihr Leben bestimmen konnte. Doch eigentlich war ihre Wunde mittlerweile fast komplett verheilt... Scar Katjero hätte somit keinen Grund sie vom Schwimmtraining zu entschuldigen. Vor allem da er ihr vor kurzem noch versichert hatte, das sie nun wieder komplett belastbar war. Aber erst recht der zukünftige Unterricht, wäre in der Theorie kein Problem für die Stute. Außer... Nyria blickte nach oben in den leicht bewölkten Herbstimmel. Die dunklen Wolken kündigten erneut ein Unwetter an. Außer er erinnerte sich... Nein. Das konnte nicht sein. Nicht nach allem, was er ihr angetan hatte.

Nyria - Kriegerin der Garde Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt