Kapitel 61

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Sie wartete. Auf was wusste sie nicht. Wie war es zu sterben? War es sehr schmerzvoll? Die Stute biss den Kiefer so fest zusammen, dass ihre Zähne knirschen. Sie konnte das rauschende Blut in ihren Ohren hören. Vor ihren Augen nichts als bodenlose Dunklheit. Und dann ein dumpfer Schlag. Nyrias Herz setzte aus. Doch nur für einen Moment. Die Stute versuchte mit angehaltenen Atem etwas zu fühlen. Irgendetwas. Doch nichts hatte sich verändert. Zögerlich öffnete sie die Augen.
"Verdammt!", schrie Sayero und machte einige Schritte von Nyria weg. Vorsichtig drehte die Stute den Kopf. Das Schwert des Hengstes steckte direkt neben ihrem Kopf in den Holzdielen. Erleichtert atmete sie aus. Mit noch immer zitternden Muskeln lag sie am Boden. Unfähig für diesen Moment an etwas anderes zu denken, als die dankbarkeit dass sie noch immer lebte.

Bis ihr Blick schließlich auf Sayero fiel. Er stand ein paar Pferdelängen von Nyria entfernt, den Kopf auf die Brust gepresst und die Augen fest zusammengekniffen. Auch er zitterte nun wie Espenlaub. Und plötzlich wirkte er nicht mehr stark oder gefährlich. Gerade im Gegensatz. Er hatte etwas zerbrechliches an sich, wie als wäre er plötzlich Jahrzehnte gealtert. Alle Kraft war aus seinem Körper gewichen, so als hätte er eine tödliche Krankheit. Nyria stemmte sich vorsichtig vom Boden hoch. Sie versuchte keinen Laut dabei zu machen, auch wenn sie sich sicher war, dass von Sayero bestimmt keine Gefahr mehr ausging. Er hätte sie töten können, wenn er es gewollt hätte. Aber er hat es nicht.

"Du musst verschwinden.", presste der Hengst zwischen den Zähnen hervor, ohne sich zu bewegen. Doch Nyria blieb nur wie angewurzelt stehen. Sie war überfordert. Die Stute hatte nicht im Geringsten eine Ahnung wie sie diese Situation gerade einordnen sollte. Ihre Gedanken sollten wohl rasen. Doch es herrschte eine beunruhigende Stille in ihrem Kopf.
"Hast du nicht verstanden!? Du sollst verschwinden!", Sayero riss den Kopf nach oben und schrie der Stute entgegen. Überrascht machte sie einige Schritte zurück, doch weiter bewegte sie sich nicht. In Sayeros Augen schimmerten Tränen.
"Du sollt verdammt noch mal hier weg!", bedrohlich machte Sayero einige Schritte auf Nyria zu. Doch wenn es auch so absurd war, hatte Nyria das Gefühl, dass sie bleiben sollte. Ihr Verstand würde sie normalerweise gemeinsam mit Sayero anschreien, dass sie so schnell es ging weg von hier fliehen sollte. Doch ihre innere Stimme blieb stumm. Und so war da nur noch ihr Herz auf das sie hören konnte. Und es flehte sie aus irgend einem Grund am zu bleiben.
"Ich habe gesagt du sollst sofort von hier verschwinden! Kapierst du nicht?! Verschwinden! Sonst werden sie dich wegen Hochverrat hinrichten!", der Hengst stand nun direkt vor Nyria, bestimmt zwei Köpfe größer und starrte voller Wut auf sie hinab. Aber es war keine Wut aus Boshaftigkeit. Es war Wut aus Verzweiflung. Und sie wurde immer größer. Während Nyria nur schwer atmend vor Sayero stand und seinem Blick stand hielt. Ihr gesamter Körper war bis zum äußersten angespannt.

"Warum gehst du nicht? Warum tust du mir das an?", Sayeros Stimme wurde immer leiser, bis sie nur noch so etwas wie ein Wimmern war. Tränen brachen aus seinen Augen und rannten sein Gesicht hinab. Er legte den Kopf in den Nacken, wie als wollte er versuchen sie aufzuhalten. Doch es gelang ihn nicht.
"Warum...", schließlich sackte der graue Hengst vor Nyria in sich zusammen. Er lag am Boden wie ein Haufen Elend.
"Warum...", seine Stimme war nur noch ein Hauch. Für einen Moment spürte die Stute in ihrem Herzen einen Stich. Sie machte einige Schritte rückwärts von dem Hengst weg, der nun nur noch zitternd vor ihr lag. Er sah so mitleidig aus. Schluchzend und die Muskeln angespannt kauerte er dort am Boden. So, wie als wäre er derjenige, der Hilfe bräuchte. Wie als wäre er das Opfer.

Nyrias Fell begann auf einmal zu brennen. In Sekunden wandelte sich ihre Verwirrung zu Wut. Sie biss die Zähne so stark zusammen, dass sie knirschten und sogar zu schmerzen begannen. Mit starrem Blick betrachtete sie Sayero, der einfach so verharrte wie er war. Nyrias Atmung wurde immer kräftiger. Wie konnte er nur? Was dachte dieser Hengst sich, sie erst ermorden zu wollen und nun so schwach vor ihr zu sitzen? Mit einer fließenden Bewegung hob Nyria das Schwert des Wächters erneut auf, während sie mit kräftigen Schritten auf Sayero zutrat. Ohne inne zu halten legte sie die scharfe Klinge an die Kehle des Hengstes und zwang ihn so dazu den Kopf zu heben und ihr in die Augen zu sehen.
"Sag mir, was bildest du dir eigentlich ein? Du wolltest den obersten Wächter töten! Wolltest mich töten! Und nun sitzt du hier... wie als wäre all das nie geschehen. Das ekelt mich an.", presste Nyria zwischen den Zähnen hevor. In ihren Augen brannte ein Feuer aus Wut, das ihr Blut zum kochen brachte.
"Ich hatte keine andere Wahl.", stöhnte Sayero, der seinen Kopf krampfhaft nach oben hielt, um den Druck des Schwertes auf seinen Hals zu verringern, "Ich will nicht das er stirbt, aber er muss sterben... doch das... ist nun auch nicht mehr wichtig..."
"Nicht mehr wichtig? Ich habe meine gesamte Zukunft aufgegeben, um dich davon abzuhalten den Wächter zu töten, damit sein Nachfolger tausende Streuner töten kann! Und Eson! Er ist tot! Er hat überhaupt keine Zukunft mehr, weil du ihn umgebracht hast!", schrie Nyria den Hengst unbändig an. Die Stute war rasend vor Wut und drückte das Schwert noch enger an Sayeros Kehle, sodass ein Tropfen Blut an dem hellen Fell des Hengstes hinunterrann und eine rot glänzende Spur hinterließ. Nyrias Seele stand in Flammen. Am liebsten würde sie seine Kehlte auf der Stelle durchtrennten und zusehen wie er auf dem Boden verblutete. Doch zuerst musste er zugeben was er getan hatte.

"Ich... Ich habe Eson...", Sayero hatte durch das Schwert mittlerweile Schwierigkeiten zu atmen und brachte so nur schwer die Worte heraus.
"Ich habe ihn nicht getötet!", presste er schließlich hervor. In seinen Augen schimmerten neue Tränen. Doch er wendete den Blick nicht von Nyria ab, die noch immer das Schwert gegen seinen Hals drückte. Die Stute betrachtete den Hengst und kniff die Augen zusammen. Nein. Das konnte nicht stimmen. Er musste Eson umgebracht haben. Wer sollte es denn sonst getan haben.
"Lüg mich nicht an.", zischte Nyria voll Zorn.
"Aber ich habe ihn nicht getötet.", stieß Sayero angestrengt hervor. Nyria spannte die Muskeln an und starrte Sayero konzentriert entgegen. Doch der Hengst hielt ihrem Blick stand. Er schaute nicht zur Seite, noch zuckte er in irgend einer Weise. Er schaute sie einfach nur an. Und in seinen müden Augen lag eine abgrundtiefe Trauer gemischt mit einer unbändigen Angst. Aber nicht vor Nyria, oder dem Schwert, das sie an seine Kehle hielt. Es war eine Angst vor etwas, dass noch dunkler war, als die Schwärze einer mondlosen Nacht, dunkler als der tote Wald.

Nyria schnaubte und zwang sich widerwillig dazu das Schwert zu senken, sodass Sayero frei sprechen konnte. Sofort senkte der Hengst erleichtert den Kopf und atmete hustend tief durch.
"Wer sonst soll dann für den Tod Esons verantwortlich sein?", fragte Nyria mit einer möglichst ruhigen Stimme, auch wenn noch immer blanker Zorn in ihrem Unterton lag.
"Ich weiß es nicht. Aber ich gehe leider davon aus, dass... dass er sich selbst von der Kante gestürzt hat.", sagte Sayero und zum ersten mal wendete er den Blick nicht zu Nyria während er sprach. Es schien ihm wirklich zu schaffen zu machen. Nyria hob überrascht den Kopf. Eson soll sich also selbst umgebracht haben?
"Wusste er von dem Mordplan?", fragte Nyria kurz.
"Nein! Er... hat sehr unter dem Druck der Ausbildung gelitten. Vor allem unter Heros. Er muss Eson schwer zugesetzt haben. Ich habe versucht ihm zu helfen. Doch es war schlussendlich wohl zu viel für ihn und er hat keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als...", Sayeros Stimme brach ab. Er richtete den Blick auf den Boden und hielt für einen Moment inne. Nyria konnte es noch immer nicht richtig fassen. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es. Eson hatte gesagt er hielte es nicht mehr aus. Hatte er also Heros gemeint? Es war wahr, der kleine braune Hengst wurde von dem großen und stämmigen Palimino immer wieder geärgert und ausgelacht. Seit er gegen Nyria verloren hatte. Einen Streuner. Und dann auch noch unehrenhaft. Nyria kniff die Augen zusammen und legte die Ohren nach hinten. Das es so schlimm für ihn gewesen war, war ihr nicht bewusst gewesen. Doch wie grausam Heros sein konnte, wusste sie dagegen sehr wohl. Nyria seufzte. Sie konnte sich nicht sicher sein, ob Sayero ihr wirklich die Wahrheit erzählte. Doch der Hengst wirkte beim besten Willen nicht so, als würde er Lügen. Er schien ehrlich betroffen zu sein von dem was mit Eson geschehen war. Aber auch wenn er nicht schuld an Esons Tod sein sollte, den obersten Wächter zu töten war sein fester Plan gewesen.

"Ihr sagtet der Wächter muss sterben. Warum?", Nyrias Stimme brach mit einem Mal die eisige Stille in tausend kleine Stücke. Sayero zuckte bei ihren Worten zusammen. Sein Fell begann erneut fast unmerkbar zu zittern.
"Ich weiß nicht genau, woher du überhaupt von diesem Plan weißt. Aber er ist nicht meine Idee gewesen. Ich war nur derjenige, der ihn ausführen sollte.", Sayero kauerte noch immer am Boden. Seine Nüstern vibrierten, seine Augen konnte Nyria nicht sehen, doch sie hörte wie eine Träne auf den hölzernen Boden auftraf.
"Ich wollte das hier nie tun! Aber sie haben mir keine Wahl gelassen...", murmelte der Hengst, der mit seinen Gedanken plötzlich ganz woanders zu sein schien. Er verharrte eine gabze Weile so, ohne sich zu regen, starrte nur in die Ferne jenseits des Bodens.
"Was sollten sie euch bitte antun, um euch zu zwingen so etwas zu tun. Nach dem ihr den Wächter getötet hättet, wäre sein Nachfolger an die Macht gekommen und hätte dadür gesorgt, dass tausende von Streunern abgeschlachtet werden.", fragte Nyria.
"Sie wollten nicht mir etwas tun...", die Stimme des Hengstes brach. Sayero hob langsam den Kopf. In seinen Augen schimmerte die pure Verzweiflung.
"Sondern meiner Tochter."

Nyria - Kriegerin der Garde Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt