Kapitel 66

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Nyria legte die Ohren nach hinten, als ihr der kalte Wind eisig entgegenbließ. Widerwillig sog sie die salzige Luft durch ihre Nüstern ein. Der Blick der Stute war stur nach vorne auf die weite Grasebene gerichtet, die sich schon bald in ein Schlachtfeld verwandeln würde. Die harten Böen ließen das lange Gras wehen wie eine Mähne im Wind. Die Sonne hatte sich vor dem kommenden Grauen hinter den Wolken versteckt, sodass es fast schon so dunkel war wie nachts. Die Rüstung des Hengstes neben Nyria klapperte laut und durchbrach die windige Stille, als er an einem seiner Lederriemen herumzzpfte. Er war aufgeregt. Nyria verstand ihn gut. Immerhin standen sie direkt in der ersten Reihe. Und warteten darauf, dass etwas passierte. Konzentriert richteten alle den Blick auf den Horizont, in fester Erwartung dort bald Pferde entgegengalloppieren zu sehen. Und obwohl Nyrias Aufmerksamkeit ebenfalls nach vorne gerichtet sein sollte, zuckten ihre Ohren immer wieder zur Seite, weg von dort wo sie eigentlich sein sollten. Hin zu den Wellen, die in der Brandung dramatisch laut gegen die Steine schlugen. Das Meer befand ich nur wenige Baumlängen rechts von ihr. Dort fiel der Boden urplötzlich senkrecht ab und bildete eine Steinwand, gegen die das Meer immer wieder ankämpfte. Die Stute war zuvor noch nie am Meer geswesen. Bis sie vor ein paar Stunden zum ersten Mal über die Kante in die endlose Ödnis, gefüllt mit nichts als Wasser, geblickt hatte. Es hatte ihr das ganze Fell aufgestellt. Wie tief das Wasser dort draußen war, wollte sie sich gar nicht vorstellen. Und trotzdem schweiften ihre Gedanken mit jedem Wellenschlag erneut zu ihrem nassen Alptraum. Nyria schnaubte und zuckte kurz überrascht zusammen, als der erste Regentropfen direkt zwischen ihren Nüstern landete. Und dann bahnten sich immer mehr Tropfen ihren Weg aus den dunklen und schweren Wolken, die am Himmel tronten, zum Boden. Es war wie als würde der Himmel weinen. Um die Pferde, die hier bald ihr Leben lassen würden. Die Stute senkte den Kopf, damit ihr die Tropfen nicht direkt ins Gesicht fielen, doch schon nach kurzer Zeit sickerte das erste Wasser bereits durch ihre Rüstung.

Ob sie aufgeregt war wusste Nyria nicht. Das Gefühl, das sich seit gestern in ihrer Brust breit gemacht hatte, war schwer zu deuten. Irgendetwas zwischen unbändiger Angst und einer stoischen Ruhe, die selbst schon fast beunruhigend war. Mit einem tiefen Atemzug sog sie die feuchte Luft tief in ihre Lungen. Ihr vom Regen durchnässtes Fell glänze fast schon mehr wie das dunkle, aufgewühlte Meer. Der Himmel wurde so düster, wie als wäre die Sonne geflohen. Die Zeit, die sie alle dastanden und einfach nur warteten fühlte sich an wie eine Ewigkeit.

Und dann, mit einem Mal, ging alles ganz schnell. Am Horizont tauchten plötzlich kleine Punkte auf. Sie wurden immer größer, das Geschrei der ihnen entgegengalloppiereden Pferde immer lauter. Nyria spürte wie Adrenalin in ihr Blut schoss. Unruhig tänzelte sie auf der Stelle und wartete auf den Befehl. Die Rüstung scheuerte an ihrem nassen Fell, doch das störte sie nicht. Ihre Augen und Ohren waren nach vorne gerichtet, selbst das Meer, das langsam von den Rufen ihrer Gegner übertönt wurde, lenkte sie in diesen Augenblick nicht mehr ab.
"Angriff!", gab ein Hengst hinter Nyria dann schließlich lauthals den Befehl. Die Stute legte ihre Zähne fest um den Griff ihres Schwertes. Als sie es mit einem Ruck aus seiner Scheide zog leuchteten die roten Augen der goldenen Drachen im Dunkeln auf. Mit entschlossenem Blick galoppierte die Roanstute der Armee Aarens entgegen, hinter ihr folgte die Armee Cateas. Mit aller Kraft versuchte Nyria den letzten Funken Angst in sich zu ersticken. Dieses Gefühl würde ihr hier nicht helfen, sondern nur behindern.

Abrupt rammte die Stute ihre Hinterläufe in den Boden, stieg mit der Vorderhand nach oben und rammte ihr Schwert dann mit voller Wucht in den Rücken des ersten Pferdes, das ihr entgegen kam. Nyria hatte bis jetzt noch nie jemanden getötet. Aber sie hatte schon so viele Pferde sterben sehen. Moral war ihr als Fohlen nie beigebracht worden, der Tod war ihr ständiger Begleiter gewesen. Deswegen hatte Nyria keine Hemmungen ihr Leben zu verteidigen, egal was es kostete. Und wenn es das Leben Anderer war. Wenn nicht er, dann sie. Und auch wenn die Stute daher keinen Moment zögerte, spürte sie dennoch ein unangenehmes Ziehen in ihrer Brust, als ein paar Tropfen des warmen Blutes auf ihr Fell spritzte. Denn das hier vor ihr waren auch nur Pferde, die genauso wie sie un ihr Leben kämpften. Doch heute hatte Nyria keine andere Wahl. Und so tat sie ihr bestes den Schwerthieben der Anderen auszuweichen, um dann selbst zuschlagen zu können. Die bläulich-silberne Klinge ihres Schwertes war bereits nach kurzer Zeit mit einem dünnen, rot glänzenden Film überzogen.

Nyria - Kriegerin der Garde Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt