12 || Du hast mich nie geliebt

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Nun eine klare Sicht auf Ashtons Gesicht zu haben, brachte mich ausschließlich dazu, die Brandmarke anzustarren. Sie zeichnete sich über seine gesamte rechte Gesichtshälfte. Von der Stirn über die Wange bis zu seinem Kinn und an seinem Hals hinab war die Haut gerötet und zusammengezogen. Sie wirkte unebener als der Rest seines Gesichts.

Generell erleuchtete seine Haut so unfassbar blass, als wäre ihr jegliche Farbe entzogen worden. Ashton ist schon immer ein sehr heller Hauttyp gewesen, weil er nie freiwillig das Haus verlassen wollte. Normalerweise hat jedoch immer ein gesunder Rosaton darin gelegen, von dem nun jedoch jede Spur fehlte.

Hinzu kamen seine glasigen blauen Augen, von denen das rechte etwas trüber als das andere wirkte. Beide Augen waren mit dunklen Ringen unterlaufen, als hätte er viele Nächte lang nicht mehr geschlafen. Generell schien er nicht besonders bei vollstem Verstand zu sein, was wohl an dem mangelnden Schlaf liegen musste.

Ich erwischte mich dabei, wie ich länger als gewollt diese Narbe anstarrte. Eigentlich wollte ich ihn nicht so ansehen, als wäre er ein Außerirdischer mit einem fremden Körper, den ich zunächst inspizieren musste. Leider fiel es mir nur verdammt schwer, von dieser offensichtlichen fleischigen Stelle wegzuschauen.

Hastig versuchte ich sein Gesicht im Ganzen zu mustern und musste feststellen, dass es noch kantiger geworden ist. Er musste nochmal wahnsinnig abgenommen haben, wie auch die gebrechlich wirkende Statur bezeugte.

Früher ist er ein ziemlich kräftiger Junge mit süßen Pausbacken gewesen, doch das war er schon lange nicht mehr. Nach der zweijährigen psychiatrischen Behandlung hat er eine Menge abgenommen, aber seit diesem Brand musste er noch weitere unzählige Kilos verloren haben. So viele, dass ich befürchtete, es würde nicht mehr gesund sein.

Die Zigarette ließ er dann auf den Asphalt fallen und trat sie mit einer kleinen Fußbewegung aus. Unter der Schuhsohle knirschten die kleinen Steinchen, die mich in die Wirklichkeit zurückholten. Ich brachte dennoch kein einziges Wort heraus, denn dieser Junge, der gerade vor mir stand, sah so anders aus. So verletzt. So leer. So fremd.

Zögerlich wagte ich mich einen weiteren Schritt an ihn heran, bis ich ungewöhnlich dicht vor ihm stand. Ich habe seine Nähe all die Zeit lang nicht spüren können und jetzt war ich ihm auf einmal hautnah. Ein Zusammentreffen mit ihm habe ich mir nicht ganz so unerwartet vorgestellt.

Ich blickte zwischen seinen Augen hin und her, die mich so anschauten, als würden sie sich mein Gesicht einprägen müssen. Wir hatten uns zwei ganze Monate lang nicht mehr gesehen, wovon er drei Wochen lang im Koma gelegen hatte und dass wir uns plötzlich gegenüber standen, überfuhr mich regelrecht.

Sachte hob ich meinen Arm an und näherte mich mit der Hand seinem Gesicht. Mit größter Vorsicht und zaghaften Berührungen schob ich ihm die dunkelroten Haare aus der Stirn, ohne mich von seinen Augen zu lösen. Ich konnte seinen Blick nicht deuten, als würde gerade vor mir ein völlig fremder Mensch stehen.

"Wie geht es dir?", fragte ich mit heiserer Stimme. Ich hatte mich selbst überhaupt nicht mehr unter Kontrolle und merkte, wie meine Hand zu zittern begann.

Behutsam legte ich meine Fingerspitzen auf die Brandnarbe und streifte mit ihnen über seine Wange. Darunter fühlte sich seine Haut tatsächlich anders an. Nicht unbedingt rau, aber ich konnte deutlich spüren, dass sich diese Hälfte seines Gesichts aufgrund leichter Unebenheiten von der anderen unterschied.

Ashtons nicht zu definierender Blick wanderte auch über mein Gesicht. Diese leeren Augen ließen einen Schleier über meinen Körper legen, als würden sie nicht ganz zu mir hindurchdringen können – und andersrum auch. Ihm musste wohl auffallen, dass ich mich nicht sonderlich verändert hatte. Im Gegensatz zu ihm habe ich ein bisschen zugenommen, da ich nicht mehr das Tanztraining besuchte und auch nicht mehr regelmäßig mit Holly joggen ging. Im Großen und Ganzen habe ich mich aber – optisch gesehen – kein Stück verändert.

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