14 || Ich kann etwas für dich tun

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Nach und nach – wie bei einer Kettenreaktion – schienen auch die ganzen anderen Schüler ihn wiederzuerkennen. Sie begannen mit leisem Tuscheln, gefolgt von finsterem Starren. Würde Tristan da vorne stehen, würde sich Angst und Panik in der Luft ausbreiten. Nur herrschte hier gerade eine völlig andere Atmosphäre. Pure Dunkelheit legte sich wie ein Schatten über den Raum, als würden alle Ashton einzig und allein mit ihren Blicken töten wollen.

"Guten Morgen." Mr Smith schien im Augenblick der einzige Sonnenschein zu sein und fing an zu grinsen. "Lange ist es her. Doch nun darf er wieder zur Schule zurückkehren und all seinen Kursen wieder beitreten."

Mir rutschte das Herz in die Hose. Das bedeutete, dass Ashton in so gut wie jedem Fach denselben Kurs wie ich besuchen würde! Zu Schuljahresbeginn haben wir uns absichtlich für die gleichen Fächer eingetragen, damit wir immer zusammen sein konnten. Ich habe Ashton regelrecht dazu gedrängt, dasselbe wie ich zu wählen. Irgendwie bereute ich diese Entscheidung gerade.

Als er den Kopf anhob, offenbarte er uns allen die Brandnarbe. Sofort verstummten alle Gespräche. Bei Tageslicht war sie noch deutlicher zu erkennen und versetzte mir einen schmerzhaften Stich in die Brust. Jeder war damit beschäftigt, ihn anzustarren und von Kopf bis Fuß zu mustern. 

Vor der Zeit der zweijährigen Psychiatrie hat Ashton einen völlig anderen Ruf in der Schule gehabt. Damals ist er niemandem besonders aufgefallen. Er ist nur ein anderer normaler Schüler gewesen. Als sich jedoch herumgesprochen hat, dass er sich selbst verletzen und deshalb in die Psychiatrie gesteckt werden würde, hat sich das Blatt gewendet.

Sie haben die widerlichsten Worte in den Mund genommen, um über ihn zu sprechen. Ashton hat unzählige Spitznamen gesammelt, die so überhaupt nicht nett waren. Tja, und als er aus der Klinik wieder zurückgekehrt ist, hat sich alles nur noch verschlimmert.

Die einzigen Menschen, die sich auch nur ansatzweise in seiner Nähe aufhalten wollten, sind Sienna und Jamie gewesen. Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass sie das bloß getan haben, weil wir beste Freundinnen sind. Ansonsten hätten sie bestimmt auch Abstand gehalten – was ich ihnen aber auch nicht verübelt hätte. Menschen waren dann doch irgendwie alle gleich.

Dann hat es noch Jacob gegeben, in der Rolle von Ashtons bestem und einzigem Freund. Selbst wenn man seine wirren Gedanken manchmal nicht verstehen konnte, ist er eine wichtige Stütze in Ashtons Leben gewesen. Sie sind sich nahegestanden. Demnach war Jacobs plötzlicher Tod für Ashton sicher noch verdammt schwer.

"Ashton Fierce", verkündete Mr Smith den verbotenen Namen. Manche schienen erst jetzt richtig begreifen zu können, dass er tatsächlich da vorne stand – und noch lebte. Der Lehrer nickte Ashton auffordernd zu. "Wenn du magst, kannst du gerne noch etwas sagen oder dich einfach auf einen der freien Plätze setzen."

Einen Moment lang blieb Ashton noch stehen, bevor er sich dann in Bewegung setzte. Mein Körper verkrampfte ganz automatisch bis in die Fingerspitzen. Ich presste die Kiefer fest aufeinander. Früher hat Ashton immer neben mir gesessen, doch mittlerweile saß ich neben Jamie und Sienna an Einzeltischen.

Die beiden schauten mich überrascht und beunruhigt zugleich von der Seite an. Offensichtlich waren sie wie der Großteil des Kurses vollkommen sprachlos und konnten auf diese Situation nicht anders, als mit schockierten Gesichtsausdrücken reagieren. Ich versuchte ihre Blicke um jeden Preis zu ignorieren.

Lieber beobachtete ich Ashton, der ganz langsam Schritt für Schritt durch die Tischreihen hindurch ging. Mit jedem Zentimeter, dem er sich näherte, schien die Luft immer dünner zu werden. In mir stieg ein endlos leeres Gefühl auf, das meine Sinne ein wenig benebelte und einen plötzlichen Schwindel über mich erbrachte.

ASHES ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt