26 || Alles ist Kunst

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"Ach nichts ..." Ich zuckte mit den Schultern und versuchte nicht allzu interessiert zu klingen, während wir uns immer noch über Tristan unterhielten. "Er sieht einfach nur ziemlich unglücklich aus."

"Er war als unschuldiger Mensch im Knast, Anni", brummte Jamie und hörte sich dabei schon fast vorwurfsvoll an. "Ich bin auch da kein Experte, aber ich weiß, dass man da sicher nicht glücklich ist."

Damit hatte sie natürlich vollkommen recht, aber ich konnte nicht anders, als erneut über meine Schulter zu sehen. Tristan stand immer noch in derselben Position da und musterte nun das Kunstwerk vor sich, wobei sein Blick kurzzeitig auf meinen traf. Ich hob die Mundwinkel ganz leicht an.

Da sich Jamie immer noch an meiner Seite aufhielt und ihn anstarrte, wandte er sich bloß ab und ging in einen anderen Raum. Ich schluckte und hakte mich bei meiner Freundin ein, die Tristan ehrfürchtig hinterherschaute.

"Was denkst du eigentlich? Ist er wirklich unschuldig?", fragte ich sie dann und versuchte dabei so unschuldig und gelassen wie nur möglich zu klingen.

Jamie musterte mich misstrauisch. "Warum diese plötzliche Frage?"

"Ach, weil scheinbar jeder andere Ansichten hat ..." Ich wich ihrem Blick aus und schaute kurz das Kunstwerk an, bei dem Tristan eben noch gestanden hatte. Eigentlich wollte ich nur aus ihrem Mund hören, dass sie weiterhin an Tristans Schuld glaubte – oder an Ashtons.

"Ich wünschte, ich wüsste wen ich verdächtigen soll", gab Jamie seufzend von sich und hielt dann den von Mrs Rider ausgeteilten Zettel in die Höhe. "Lass uns erstmal diesen Arbeitsauftrag erledigen."

Ich versuchte mich wirklich auf die Aufgabe konzentrieren, weil mir eine gute Note echt nicht schaden konnte. Deshalb las ich den Text einmal durch und stellte fest, dass wir mindestens eine Seite schreiben sollten. Bisher hatte es mir allerdings kein einziges Ausstellungsstück besonders angetan.

Während Sienna wohl etwas gefunden hatte, wirkte Jamie eher gelangweilt und schaute sich nachdenklich um. Immerhin war ich nicht die einzige, die noch nichts gefunden hatte. Ich entdeckte Mrs Rider und Mr Smith bei einem recht abstrakten Kunstobjekt stehen.

Kurzzeitig spielte ich mit dem Gedanken, mich dafür zu entscheiden, obwohl ich keine Ahnung hatte, was es darstellen sollte. Allerdings fanden die Lehrer es wohl ziemlich interessant und ich könnte mich vielleicht bei ihnen einschleimen. Leider schnappten mir Claire und Veronica meine Idee vor der Nase weg und fingen an, mit unseren Lehrern darüber zu diskutieren.

Daher schlenderte ich weiter durch den Saal und landete letztendlich in dem Raum, in den Ashton bereits vorgegangen ist. Ich sah ihn vor einem realistischen Gemälde stehen, das er von oben bis unten musterte.

Es zeigte eine Frau in einem grünen Mantel und mit einem gelben Hut auf dem Kopf an einem Tisch sitzen. Die lebhafteren Farben des Vordergrunds traten gegen den recht dunkel gehaltenen Hintergrund an, woraus ich schließen konnte, dass sie wohl zum Abend in einem Café saß. Neugierig trat ich etwas näher heran, blieb jedoch in einem großen Abstand zu Ashton hinter ihm stehen.

Dadurch, dass keinerlei Dekorationen – bis auf eine farbenfrohe Obstschale – in dem Café untergebracht waren, erzielte das eine relativ kühle Wirkung auf das Gesamtbild. So blieb mir nichts anderes übrig, als dass ich wieder die Frau in den Fokus nahm, die sich von ihrer Umgebung deutlich hervorhob.

Ich musste zugeben, dass die Frau eher unglücklich und nachdenklich aussah, wie sie dort völlig allein an dem Tisch saß. Selbst ihr Hut hing wie ihre Mundwinkel schlaff herunter und verbarg darunter teilweise ihr trauriges Gesicht.

Sie war ganz allein, als würde sie sich von ihrer Außenwelt isolieren wollen.

Ich bemerkte, wie ich mich automatisch zu Ashton gestellt habe und sah ihn nun von der Seite an. Er hatte seinen konzentrierten Blick immer noch auf das Gemälde gerichtet und schien in seine eigene kleine Gedankenwelt abgetaucht zu sein.

ASHES ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt