20 || Entweder ganz oder gar nicht

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An die Tür lehnend, versuchte ich die gedämpften Stimmen dahinter zu verstehen. Das Mädchen führte entweder Selbstgespräche oder es war nicht allein, wie sich innerhalb der nächsten Sekunden auch bestätigte.

"Beruhig dich", antwortete eine männliche Stimme im Flüsterton. "Uns trifft keine Schuld. Alles ist gut."

Beide Stimmen kamen mir so unfassbar bekannt vor, aber ich konnte sie nicht eindeutig einem Gesicht zuordnen. Vielleicht war er einer von den Top-Fünf, wobei es Owen definitiv nicht sein konnte. Seine Stimme würde ich nämlich aus tausenden wiedererkennen.

Ich schob die Tür noch weiter auf, um in die leeren Jungsduschen sehen zu können. Die Tür zu den Kabinen der Jungs war bloß angelehnt und das hielt mich gerade noch davon ab, einen Blick hineinerhaschen zu können.

Das Mädchen schluchzte auf. "Was ist, wenn die Polizei es herausfindet? Was ist ... was ist, wenn uns jemand dabei gesehen hat?"

Ich presste angespannt die Lippen aufeinander und umklammerte die Türklinke fester in meiner Hand. Worüber sie gerade sprachen, bereitete mir wirklich Bauchschmerzen. Die beiden mussten irgendeinen Mist angestellt haben, wenn das Mädchen deswegen heulen musste.

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen visierte ich die andere Tür an. Entweder ganz oder gar nicht.

Ich riss die Tür ganz auf und schlich durch die Duschen hindurch bis zu der anderen Tür, hinter der ich deutlich hören konnte, wie jemand in der Kabine auf und ab ging. Die Sportschuhe quietschten höllisch laut auf dem Boden. Demnach musste es jemand aus der Tanzcrew sein!

"Uns hat niemand gesehen", erwiderte der Junge in einer beruhigenden Tonlage. "Alle sind zu sehr beschäftigt gewesen."

Ich starrte fassungslos diese Tür an, die ich nur noch ein Stück öffnen müsste, damit ich endlich sehen könnte, wer diese Gesprächspartner waren. Nur traute ich mich nicht so recht, weil ich schließlich auch nicht erwischt werden wollte. Diese Konversation wirkte ziemlich privat – und da wollte ich mich echt nicht einmischen.

"Ich habe solche Angst", flüsterte die weibliche Stimme, die wirklich jedem Mädchen aus meiner Stufe gehören könnte.

Die Sportschuhe hörten auf zu quietschen, da der Junge wohl stehen geblieben sein musste. "Ich weiß. Komm her."

Ich nahm kleine schnelle Schritte wahr und wieder ein verzweifeltes Schluchzen des Mädchens. Das klang überhaupt nicht gut, wenn sie sich Sorgen darum machen mussten, dass irgendjemand von ihrer Aktion Wind gekriegt hat.

"Ich verspreche dir, dass niemand davon erfahren wird", entgegnete der Junge sanfter. "Lass mich dich ablenken, Süße."

Darauf herrschte für einen Augenblick Stille. In der nächsten Sekunde konnte ich eine Art leises schmatzendes Geräusch hören, als würden sie sich gerade küssen. Ich würde nur zu gern diese Tür aufreißen, allerdings steigerte ich mich leidenschaftlich gern in harmlose Situationen rein, weshalb ich mich lieber von dieser merkwürdigen Konversation fernhalten wollte. Was mussten sie das auch mitten im Tanztraining besprechen?

"Schnell, beeil dich. Wir sollten zurückgehen!", sagte der Junge dann. Das Quietschen der Schuhe und eilige Schritte verließen die Umkleidekabine. Erst als sie verstummt waren, traute ich mich, die Tür langsam aufzuschieben und in die Kabine der Jungs zu blicken.

Aus dem Tanztraining konnten nur Mason, Jackson oder Phil hier gewesen sein. Wobei ich letzteren direkt wieder ausschließen konnte. Der schüchterne Junge sprach nie mehr als fünf Worte und blieb viel lieber der stumme Beobachter. Man konnte sich allerdings auch in jedem Menschen täuschen.

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