2.

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Bereits nach wenigen Metern trennten sich ihre Wege. Meredith schlug nach links ein und steuerte auf ein altes Gebäude mit weißen Marmorsäulen und großen, rechteckigen Fenstern zu. Die Universität wirkte viel erhabener, als das Schulgebäude, in dem Isabella unterrichtet wurde, aber man hatte ihnen erklärt, weshalb. Je höher man sich qualifizierte, je weiter man im Ansehen der Menschen stieg, desto würdevoller wurden auch die Gebäude.

Ein weit geöffnetes Tor markierte den Eingang der Schule. Sie war schlicht gestaltet, mit hellen Marmorböden und eckigen Pfeilern, die das zweite Stockwerk trugen.

„Der Unterricht beginnt in fünf Minuten.", hallte eine kühle, klare Stimme durch den Schulkorridor, als Isabella durch das Tor trat und sich zwischen ihre Mitschüler einreihte, die in gleichförmigen Schritten zielstrebig ihre Klassenräume aufsuchten.

„Alle Schüler in die Klassenräume.", drang es aus den Lautsprechern, nicht, dass es eine weitere Aufforderung nötig gewesen wäre. Die erste Jahrgangsstufe brach aus den Reihen aus und verschwand durch eine große Tür in das Innere des Klassenzimmers zu ihrer Rechten. Bis Isabella die Treppe, die am Ende des Korridors in das nächste Stockwerk führte, erreicht hatte, waren alle Klassen bis zum zehnten Jahrgang in die ihnen zugeteilten Räume verschwunden.

Isabella ging weiter, die Treppe nach oben. Seit nun fast einem Jahr wurde sie im zweiten Stock unterrichtet, der für die letzten beiden Jahrgangsstufen reserviert war. Obwohl er eine exakte Kopie des unteren Stockwerks darstellte, mit fünf Türen zur Rechten und fünf Türen zur Linken, acht eckigen Pfeilern jeweils zwischen den Räumen und dem steinernen Fußboden, der bei jedem Schritt ein hallendes Echo in die Luft warf, war es doch ein besonderer Moment gewesen, als sie das erste Mal die Erlaubnis bekommen hatte, die Stufen nach oben zu steigen.

Es war dieses Bewusstsein gewesen, plötzlich zu den Ältesten zu gehören, bald die Schule zu beenden und einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Dieses besondere Gefühl hatte von ihr Besitz ergriffen und, obwohl sie während des Schulalltages kaum Zeit hatte, darüber nachzudenken, war es doch nicht wieder verschwunden. Die leise Aufregung schien nach wie vor auf den Fluren zu schweben und jeden mit einer gespannten Erwartungshaltung zu erfüllen.

Die jüngeren Schüler streckten oft die Hälse, um einen Blick in die obere Etage zu erhaschen. Jeder malte sich aus, wie es wohl sein würde, zu den Ältesten zu gehören und im oberen Stockwerk unterrichtet zu werden. Aber keiner von ihnen wagte einen Versuch, die Treppe nach oben zu steigen.
Geduld war eine Tugend - Neugier ein Laster. Das war eine der ersten Regeln, die sie in der Schule gelehrt bekamen.

Rabastan Wulfs Kopf blickte am Ende der Treppe auf sie hinab, als wachte er darüber, dass nur befugte Schüler nach oben gingen. Vielleicht war es der eisige Blick seiner steinernen Augen, der die Unterstufe davon abhielt, gegen die Regel zu verstoßen.
Isabella hielt den Kopf gesenkt, als sie unter Rabastans Büste hindurchging. Den Blick gesenkt, den Mund geschlossen und die Hände auf dem Rücken gefaltet, so wie sie es gelernt hatte.

Auf den ersten Blick fiel Isabella zwischen den anderen Schülerinnen nicht auf. Auch nicht auf den zweiten, denn wie alle trug sie den hellblauen Rock, eine weiße Bluse mit kurzen Ärmeln und weiße Lacksandalen. Ihre Haare fielen ihr in einem langen, ordentlich geflochtenen Zopf auf den Rücken und mögliche widerspenstige Strähnen hatte sie mit einer kleinen Klammer am Kopf befestigt.

Am Ende des Ganges führte eine letzte Tür zwischen zwei schmalen Pfeilern in ihren Klassenraum. Es war das letzte Klassenzimmer im oberen Stockwerk. Wenn sie in wenigen Monaten ihr zwölftes Schuljahr abgeschlossen hatte, bekam sie die Erlaubnis, an die Universität zu wechseln. Bis dahin musste sie sich entscheiden, was sie studieren wollte. Sie wusste noch nicht, was die Zukunft bringen würde. Alles was sie wusste, war, dass sie keine Angst vor der Zukunft zu haben brauchte. Alle Wege standen ihr offen. Als Tochter der Almonds vielleicht noch offener, als für viele ihrer Freundinnen.

An der Tür zum Klassenzimmer wartete Bethany Poe, ihre Lyriklehrerin, um sie ihn Empfang zu nehmen. Ihr Gesicht wurde von goldenen Locken umrahmt, die sie Jahre jünger wirken ließen, als sie wirklich war. Ein Hauch rosa lag auf ihren vollen Lippen. Sie nickte Isabella zu, ließ ihren Blick kurz an ihrem Körper entlangwandern, und notierte dann ihre Anwesenheit auf einem Klemmbrett.

Vor jeder Stunde hatten die Lehrer die Aufgabe, Anwesenheit und Erscheinungsbild ihrer Schüler zu kontrollieren. In den älteren Jahrgangsstufen war dieser Prozess lediglich eine Formsache, doch bei den jüngeren Schülern kam es häufiger vor, dass ein Mädchen nach Hause geschickt wurde, weil sein Rock schmutzig war, oder die Schuhe eine abgelaufene Sohle hatten. In diesem Fall durfte es das Klassenzimmer nicht betreten und die Eltern wurden durch einen offiziellen Brief informiert.
Als Kind hatte Isabella nicht verstanden, was schlimm an einem Loch in der Strumpfhose sein sollte. Aber es hatte mit gegenseitigem Respekt zu tun und mit dem Bild, das man von sich selbst vermittelte. Wie konnte man gute Arbeit leisten, wenn man es nicht einmal schaffte, auf sich selbst zu achten?
"Es fängt bei der Kleidung an.", hatte ihre Mutter ihr erklärt. "Erst die Kleidung, dann dein Haus und schließlich die ganze Stadt. Wenn wir nicht auf die kleinen Dinge achten, wird nach und nach alles verkommen."

Louise, eine von Isabellas engsten Freundinnen, saß bereits an ihrem gewohnten Tisch in der vordersten Reihe. Sie war eine junge Frau mit Stupsnase, großen Augen und hellbraunen Locken, die sie, trotz großer Mühe, kaum in den Griff zu bekommen schien.

Als Isabella ihre Tasche neben ihrem Platz abstellte und sich setzte, rutschte Louise nah an sie heran.

„Hat deine Mum dir von dem Feuer erzählt?", fragte sie leise und Neugier funkelte in ihren Augen. Isabella kannte ihre Freundin lange genug, um zu wissen, dass Louise auf heißen Kohlen gesessen haben musste, bis sie ihr diese Frage stellen konnte. Doch sie musste sie enttäuschen.

„Was meinst du?"

Louise hob die Augenbrauen. „Du weißt nichts davon?", fragte sie ungläubig. „Meine Güte, Bella, deine Mum erzählt dir wirklich gar nichts, oder?"

Isabella versuchte, ihren Ärger über diese Aussage zurückzuhalten. Im Gegensatz zu Louises Eltern, die beide in Fabriken arbeiteten und damit zur Mittelschicht gehörten, unterlag ihre Mutter einer Schweigepflicht.

„Sie nimmt ihren Job eben ernst.", sagte sie und fügte in Gedanken an: "Im Gegensatz zu deinen." Der Satz schwebte lautlos zwischen ihnen, doch Louise schien es nicht zu bemerken. Isabella war schon häufiger aufgefallen, dass es ihrer besten Freundin an der Fähigkeit mangelte, zwischen den Zeilen zu lesen. Stattdessen beugte sie sich noch näher zu ihr heran.

Ihre Wangen glühten vor Aufregung.
„Es gab ein Feuer im Viertel der Streuner. Es heißt, die Wächter waren auf der Suche nach den Runnern, und haben aus Wut ein Haus angezündet, weil sie ihr Versteck nicht gefunden haben."

Ihre Augen blitzten. "Ich habe den Rauch gesehen. Erst dachte ich, es wäre der Dampf einer Fabrik, aber als Daddy mir diese Geschichte erzählt hat-" Sie kniff die Augen zusammen, als könnte sie es noch immer nicht fassen. "Weißt du wirklich gar nichts?"

Isabella schüttelte nur den Kopf. Sie konnte die Louises Aufregung beim besten Willen nicht nachvollziehen. Ein Feuer kam in Ashville nicht alle Tage vor, doch was kümmerte es sie, solange es sich im Viertel der Streuner und nicht in ihrem Teil der Stadt abspielte? Es gab Wichtigeres, auf das sie sich im Moment konzentrieren sollten. Den Unterricht beispielsweise.

Doch Louise ließ nicht locker.

„Bella, du musst deine Mum unbedingt ausquetschen! Ich wüsste zu gerne, was passiert ist. Endlich geschieht etwas Aufregendes in dieser Stadt!"

Isabella hatten andere Auffassungen von etwas „Aufregendem" und wollte ihrer Freundin gerade erklären, dass ihre Mutter ihr sicher nichts erzählen würde, da schloss Miss Poe die Tür hinter sich. Die Schülerinnen erhoben sich schnell und Isabella war dankbar, dass die Lehrerin ihr Gespräch unterbrochen hatte. Sie strich ihren Rock glatt und richtete ihr Gesicht nach vorne zur Tafel, über der in großen Buchstaben die Hymne Ashvilles geschrieben war, die sie jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn gemeinsam aufsagten:

„Aus den Trümmern der Welt stieg die Stadt,
großartig und glanzvoll.
Genau wie ihre Bewohner,
die die Verantwortung tragen,
diesen Glanz zu erhalten
und den Kampf zu führen,
gegen die Vergänglichkeit.
Denn Vergängliches wird vergessen
und Vergessenes ist tot."

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt