So schnell sie konnten, rannten sie die Straße entlang. Sie achteten nicht darauf, ob jemand sie in diesem Moment beobachtete und sich über Is' aufgerissenen Rock und die vom Rennen zerzausten Haare wunderte.
Nur ein Gedanke hämmerte in ihrem Kopf: sie durften nicht zu spät kommen.
Is warf einen Blick nach oben. Eine trügerisch Stille lag über der Stadt. Warum kreisten keine Helikopter über ihren Köpfen? Kein Rattern war zu hören. Und das, obwohl die Wachmänner doch wussten, dass Runner unterwegs waren. Schließlich hatten sie sie in der Klinik entdeckt.
Sie erreichten das Gitter, an dem Cube sie in ihrer Anfangszeit bei den Runnern immer abgeholt hatte. Blue zog es zur Seite und sprang durch das Loch in den Tunnel, dann half er Is hinein.
Sie machten sich nicht die Mühe, das Gitter hinter sich wieder zu verschließen.
Blindlings folgte sie Blue, den Blick fest auf seinen Rücken gerichtet. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
Was, wenn die Wachmänner etwas anderes zu tun hatten, als zwei von ihnen zu suchen, dachte sie. Hatten sie es nicht mehr nötig, die Runner auf den Dächern zu jagen, weil sie längst ihr Versteck gefunden hatten?
Waren die Runner schon gefangen, oder – Is versuchte den Gedanken zu verdrängen – waren sie bereits tot?
Übelkeit kroch in ihr hoch. Rook musste in das Angebot der Regierung eingewilligt haben, innerhalb von zwölf Stunden zu kooperieren. War er die ganze Zeit bei ihnen gewesen oder irgendwann unauffällig verschwunden? Sie konnte es nicht sagen, hatte sie sich doch längst daran gewöhnt, dass sich nur selten alle Runner im Wohnquartier aufhielten.
Ausgerechnet Rook war zum Verräter geworden. Rook, der ihr die ganze Zeit misstraut hatte, der versucht hatte, die anderen gegen sie aufzuhetzen. Er war nicht gestorben, bei dem Run, bei dem Jeremiah getötet worden war. Er war nur nicht mit ihnen zurückgekehrt. Deshalb hatten die Wachmänner gewusst, wo sie ihre Aktion durchführen wollten. Es war tatsächlich kein Zufall gewesen. Blanker Hass erfüllte sie. So mussten sich die Runner also gefühlt haben, als sie von ihrem eigenen Verrat erfahren hatten. Ein Wunder, dass sie sie wieder aufgenommen hatten.
Je näher sie dem Versteck kamen, desto schneller hämmerte ihr Herz gegen ihren Brustkorb. Nur noch ein paar Meter trennten sie vom Eingang, da hielt Blue sie mit ausgestrecktem Arm zurück.
Schwer atmend lauschten sie, bereit, beim kleinsten Geräusch die Flucht zu ergreifen.
Is hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Außer ihrer pfeifenden Atmung war alles still.
Bitte lass es noch nicht vorbei sein, dachte sie und stützte sich an der erdigen Wand ab.
Was würde sie erwarten, wenn sie das Versteck betraten? Lauerte man ihnen womöglich auf?
Oder, betete Is, kamen sie doch noch rechtzeitig?
Sie schlichen weiter. Is hatte das Gefühl, ihr Herzschlag würde von den Wänden widerhallen. Sie schluckte, doch ihr Mund war trocken. Blue legte einen Finger an die Lippen und sie lauschten erneut. Keine Kampfgeräusche, keine Schreie.
Dann eine vertraute, tiefe Stimme.
Tränen schossen in ihre Augen, als Is Cube erkannte. Wie hatte sie ihn vor Wochen noch für ein Monster halten können, während das wahre Monster mit ihr in einem Haus gelebt hatte?
Is stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte. Sie waren nicht zu spät. Die Wachmänner hatten nicht angegriffen. Noch nicht.
Blue riss die Tür auf. Die Runner standen um Phoebe versammelt. Sie lag noch immer auf dem Tisch, die Kleidung blutgetränkt, das Gesicht schneeweiß. Als die Runner Blue und Is entdeckten, ging eine Welle der Erleichterung durch den Raum.
Kate löste sich aus der Menge und lief ihnen entgegen. Sie wirkte verärgert. „Wo wart ihr so lange?", fragte sie. „Wir dachten, sie hätten euch erwischt!"
Is hatte nicht daran gedacht, dass die Runner sich Sorgen machen würden.
Obwohl sie den Ausgang nicht gefunden hatten, war sie doch froh, Ambers Büro durchsucht zu haben, auch wenn die Neuigkeiten, die sie den Runnern zu verkünden hatten, sie erneut zurückwarfen.
„Hört alle zu!", rief Blue. „Rook hat die Seiten gewechselt. Er hat uns verraten!"
Die Runner fuhren zu ihm herum. Schrecken spiegelte sich in ihren Gesichtern wider.
„Das ist unmöglich!", rief Ezra. „Sicher habt ihr euch getäuscht."
Is schüttelte den Kopf. „Er hat mit dem Hohen Rat kooperiert. Seinetwegen haben sie uns auf den Dächern erwischt."
Hatte Rook gewusst, was er mit seinem Verrat anrichtete? Hatte er in Kauf genommen, dass jemand starb? Oder hatte er es anders geplant? Hatte er gehofft, dass die Runner davonkamen? So sehr sie Rook verabscheute, sie konnte sich nicht vorstellen, dass er gewollt hatte, dass Jeremiah starb. So oder so, er hätte es besser wissen müssen.
„Wir wissen nicht, ob er Ihnen vom Versteck erzählt hat.", erklärte Blue weiter. „Aber wir können nicht mehr riskieren, hierzubleiben. Packt die wichtigsten Sachen. Wir werden Phoebe versorgen und so schnell wie möglich das Versteck verlassen. Robbe, Car, haltet Wache!"
Sofort machten die Runner sich an die Arbeit, zogen ihre Taschen hervor und begannen, die wichtigsten Dinge hineinzupacken.
Is nahm Blue die Medikamentenschachteln aus der Hand. Was hatte ihr Vater gesagt? Drei von diesen und zwei von - nein, eine von den anderen. Mit zitternden Fingern drückte sie die Tabletten aus der Packung und flößte sie Phoebe mit Kates Hilfe ein, während Jemina und Blue sich daranmachten, die Wunde neu zu verbinden. Sie konnten nur hoffen, dass die Kugel keine Organe verletzt hatte.
Is besaß kaum persönliche Gegenstände im Versteck, aber es gab etwas, das sie auf keinen Fall zurücklassen wollte. Der Stapel mit Merediths Bildern lag noch immer auf ihrem Regalbrett. Sie konnte nicht alle mitnehmen, aber sie wollte sich wenigstens eine Erinnerung bewahren. Schnell blätterte sie durch die Bilder und zog zwei heraus. Der brennende Jahrtausendplatz. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass Meredith damit irgendetwas aussagen wollte, auch wenn sie noch nicht wusste, was es war. Das andere zeigte die Aussicht von dem Hochhaus auf dem Dach, den Blick auf die andere Seite der Mauer. Sie brachte es nicht übers Herz, es im Versteck zu lassen. Wenn sie schon keinen Weg aus der Stadt fanden, dann wollte sie sich wenigstens diese Erinnerung bewahren.
Als sie ihre schwarze Kleidung aus dem Regal zog, sah sie das Foto von sich und Meredith darunterliegen. Sie hatte es die meiste Zeit bei sich, wenn sie die Kleidung der Runner trug. Obwohl sie versuchte, vorsichtig damit umzugehen, war es mehrfach geknickt und die Farben begann bereits zu verblassen.
Plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen. Was hatte sie nur angerichtet, seit Merediths Tod? Nach all dem Unglück hatte sie nun auch dafür gesorgt, dass ihr Vater gefangen genommen wurde. Ihr Vater, der Meredith und ihr selbst die ganze Zeit über geholfen hatte.
Blue war neben sie getreten. Er musste gesehen haben, dass sie weinte, denn er legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.
„Ich habe es schon wieder getan.", schluchzte sie. „Sie werden ihn töten und ich bin schuld daran."
„Victor hat sie aufgehalten, um uns zu helfen. Es war seine Entscheidung. Wenn Phoebe überlebt, dann nur wegen dir. Du bist kein schlechter Mensch."
Überrascht sah sie ihn an. Hatte er ihr wirklich verziehen, oder war Rooks Verrat gerade einfach schwerwiegender, als ihr eigener?
Ein weit entferntes Krachen riss sie aus ihren Gedanken. Die Runner zuckten zusammen. Im nächsten Moment stürmten Robbe und Car durch die Tür in den Raum.
"Sie kommen!"
DU LIEST GERADE
Runner - Die Jagd beginnt
Science FictionDie Erde, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Zu viel Schaden haben Kriege und Verwüstung angerichtet. Isabella lebt gut behütet in Ashville, einer Stadt, die aufgebaut wurde, um seine Bewohner zu schützen. Keine Bedrohung dringt über die Stadtm...
