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Isabella saß auf dem Boden des Trainingsraumes und wartete auf Blue. Er schien sich heute viel Zeit zu lassen, dabei brannte sie darauf, mehr zu erfahren. Sie war fast am Ziel. Vielleicht konnte sie ihn dazu bringen, ihr mehr über die Raben zu verraten, oder ihn überzeugen, ihr den Weg zum Versteck zu zeigen. Immerhin hatte er sie vor Kate verteidigt, das musste bedeuten, dass er nicht mehr an ihr zweifelte. Was auch immer er ihr verriet – sie würde es ihrer Mutter bald erzählen. Sie wollte ihr neue Hoffnung schenken und ihrer Familie endlich eine Möglichkeit geben, mit Merediths Tod abzuschließen.

Schritte näherten sich. „Na endlich.", rief Isabella und richtete sich auf. Doch es war nicht Blue, der antwortete.

„Ich hoffe, du hast nicht zu lange gewartet."

Isabella fuhr herum. Kate stand vor ihr, ein Tuch um den verletzten rechten Arm geschlungen. „Ich werde dich heute trainieren. Blue muss den Run übernehmen."

Isabellas Herz sank in die Hose. Das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine Stunde Zeit mit Kate. Ihr würde sie bestimmt keine Informationen entlocken können, stattdessen stellte sie sich auf eine neue Welle Anschuldigungen ein.

„Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe.", sagte Kate jedoch zu ihrer Überraschung. „Natürlich glaube ich nicht, dass du Mere umgebracht hast."

Dem Klang ihrer gepressten Stimme zufolge war Isabella sich sicher, dass Kate sich nicht freiwillig bei ihr entschuldigte. Tatsächlich meinte sie einen Schatten im Tunnel vor dem Übungsraum vorbeihuschen zu sehen. Sicher war es Jeremiah, der gelauscht hatte und sich nun zufrieden zurückzog.

Auch Kate warf einen Blick zum Ausgang und die misstrauische Falte zwischen ihren Augen kehrte zurück. Fast erwartete Isabella, dass sie die Entschuldigung zurücknehmen würde, doch Kate begann, vor ihr auf und abzuschreiten.

Auf eine seltsame Art und Weise erinnerte sie Isabella so an Blue, als wären sie Zwillinge. Nur fehlte Kate das, was Blue umgab: diese feine Art, sich zu bewegen. Als wären sie zwei gleiche Steine, dachte sie, einer geschliffen, der andere roh.

"Du hast gelernt, wie man rennt.", sagte Kate. "Du kennst die Technik. Aber es ist nicht so, wie die meisten Menschen denken. Wir rennen nicht einfach drauflos. Wir folgen Regeln. Die wichtigste ist: keine Alleingänge. Du tust das, was dein Vorderer sagt."

„Was ist ein Vorderer?"

„Der Vordere ist der Runner, der die Gruppe anführt. Er sieht nach, ob der Weg frei ist, bestimmt die Strecke und behält den Überblick. Deshalb ist es wichtig, dass du zu jeder Zeit seinen Anweisungen folgst."

„Blue ist der Vordere?", riet Isabella und Kate nickte.

„Richtig. Er ist der erste Vordere. Ich bin die zweite Vordere und führe den Run immer dann an, wenn Blue verhindert ist oder wir uns aufteilen und in zwei Gruppen rennen."

„Man wird der Vordere, wenn man der Beste ist, oder?", vermutete Isabella.

Kate hörte auf, hin und her zu wandern, legte eine Hand auf eine der mittleren Plattformen und schwang sich trotz ihrer Verletzung mühelos hinauf. „Du musst gut sein, aber vor allem muss Jeremiah dir vertrauen.", sagte sie. „An dem Tag, an dem er damit aufhört, wirst du kein Vorderer mehr sein."

Mit einem weiten Satz sprang sie auf die nächste Plattform. Das Holz knarzte. Mit ernstem Gesicht sah sie zu Isabella hinunter. „Jackson war der zweite Vordere. Blues Vertreter. Bis vor kurzem."

Das wunderte Isabella. Sie hatte den Eindruck gehabt, Jeremiah und Jackson verstanden sich gut. Aus welchem Grund sollte Jeremiah ihm nicht mehr vertrauen?

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt