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Gerade noch schaffte es Isabella, hinter eine Ecke zu kriechen, da wurde die Tür aufgestoßen und ihre Mutter kam, gefolgt von den Wachmännern, aus dem Raum. Mit lauten, klackenden Schritten entfernten sie sich, ohne einen Blick zurück zu werfen.

Isabella rutschte mit dem Rücken an die Wand gelehnt zu Boden. Sie bekam keine Luft, als hätte sich ein Käfig um ihren Brustkorb geschlossen, der ihn unbarmherzig zusammendrückte. Eine Welle der Übelkeit überrollte sie.

Erst Jackson und jetzt auch noch Fish. Der kleine, unschuldige Fish.

Keuchend stieß sie die Luft aus und versuchte ihren Atem zu beruhigen. Sie musste ihn noch einmal sehen. Sich überzeugen, dass er wirklich tot war.

Noch einmal drückte sie die Türklinke nach unten und diesmal schwang die Tür auf. Stickige Luft und schummrige Dunkelheit empfingen sie. Sie schaltete das Licht nicht an. Fish saß noch immer zusammengesunken auf dem Stuhl, der Kopf war auf seine Brust gesunken. Noch nie hatte er so jung ausgesehen, wie in diesem Moment. Wie ein Kind. Trotz seines Alters hatte er immer erwachsen gewirkt. Vom Leben gezeichnet. Sein kurzes, kurzes Leben. Wie viele Jahre hätte er noch vor sich gehabt?

Isabella ging neben ihm auf die Knie und begann mit zitternden Fingern, seine Fesseln aufzuknoten.

„Es tut mir leid.", flüsterte sie. „Es tut mir wahnsinnig leid." Endlich kamen die Tränen, die über ihre Wangen rannen und nasse Flecken auf ihrer Hose hinterließen. „Ich wusste nicht, was ich damit anrichte. Ich wollte das nicht. Bitte verzeih mir.", flehte sie mit erstickter Stimme.

Vielleicht war es albern, mit einem Toten zu sprechen, doch es kam ihr falsch vor, ihn einfach zurückzulassen. So einen Tod hatte er nicht verdient. Sie legte die zitternde Hand auf seine magere Brust. Sein Körper war warm, doch sein Herz schlug nicht.

„Sie haben dich Fish genannt, weil du stumm bist.", flüsterte sie und wurde von einem Schluchzer geschüttelt. „Aber weißt du was? Die Eigenschaft, die Fische besonders macht, ist nicht, dass sie stumm sind. Sie sind frei. Sie können schwimmen, wohin sie wollen, ohne Mauern, die sie aufhalten. Und sie sind glücklich. Egal, ob einer klein ist oder groß, grau oder bunt. Keiner kann dir mehr wehtun, kleiner Fish. Du bist frei."

Sie sank neben ihm zusammen, die Stirn gegen Fishs Beine gelehnt. In diesem Moment dachte sie nicht daran, dass die Wachmänner zurückkommen konnten. Es war ihr egal. Alles war egal. 

Als sie sich endlich losreißen konnte, fand sie halb blind vor Tränen ihren Weg aus dem Gebäude. Sie achtete nicht darauf, ob jemand sie sah oder sich über ihre blutverschmierten Hände wunderte. Von einer Sekunde auf die andere hatte sie es in diesem Raum nicht mehr ausgehalten. Plötzlich hatte sie den Tod so deutlich wahrgenommen, dass sie noch immer das Gefühl hatte, er würde sich an ihr festklammern. Sie wünschte sich, Fish mitnehmen zu können. Ihn zurück zu den Runnern zu bringen, zu seiner Familie. Aber es wäre unmöglich gewesen.

Ihre Mutter hatte die Anordnung gegeben, Fish zu töten. Ihre eigene Mutter hatte einen hilflosen, unschuldigen Jungen umgebracht. Sie konnte nicht mehr nach Hause zurück. Nie mehr.

Sie rannte die Straßen entlang und es tat gut zu spüren, wie die Kraft durch ihre Beine floss und ihr Herz Blut durch ihren Körper pumpte. Sie hatte das Bedürfnis zu spüren, dass sie noch lebte. Dass sie nicht wie Fish zusammengesunken auf einem Stuhl in diesem trostlosen Raum saß. Der Wind wehte durch ihre Haare, ihre Lunge brannte und jeder Atemzug war eine Qual, doch sie wollte nicht aufhören zu laufen.

Als sie das erste Mal stoppte und die Arme auf die Knie stützte, um nach Luft zu schnappen, stellte sie fest, dass sie sich ganz in der Nähe des Verstecks befand. Unbewusst und ohne auf den Weg zu achten, war sie in die richtige Richtung gerannt.

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt