Die Sonne warf dumpfes Licht durch die zugezogenen Vorhänge und malte Schattenfiguren an die Wand. Die Luft im Zimmer war stickig und heiß, doch Isabella konnte sich nicht aufraffen, das Fenster zu öffnen.
Ihre Kehle war trocken und kratzte bei jedem Atemzug. Sie sehnte sich nach einem Glas Wasser, aber allein bei dem Gedanken, ihr Zimmer zu verlassen und hinunter in die Küche zu gehen, zog sie sich die Decke nur noch weiter über ihren Kopf.Im Nachhinein konnte sie sich an die Tage, die auf Merediths Tod folgten, kaum mehr erinnern. Alles schmolz zusammen zu einem verschwommenen, grauen Gedanken, als hätte ihr Gehirn versucht, alle Erinnerungen auszusperren.
Sie fühlte nichts. Keinen Schmerz, keine Trauer, nur eine hoffnungslose Leere. Es war sinnlos. Es war sinnlos, aufzustehen. Es war sinnlos, sich die Haare zu kämmen oder sich umzuziehen. Alles, was sie wollte, war hier zu liegen und zu warten, bis es vorbei war.
Stunden rasten dahin wie Sekunden und Minuten zogen sich wie Tage. Das einzige, was ihr zeigte, wie die Zeit verging, waren die tanzenden Schatten, die sich mit der wandernden Sonne bewegten.
Ihr Vater hatte mehrmals die Tür geöffnet. Einmal hatte er sich an ihr Bett gesetzt und ihr die Hand auf die Schulter gelegt. Ein anderes Mal hatte er ein Tablett mit Abendessen auf ihren Nachttisch gestellt. Sie hatte es nicht angerührt. Überhaupt hatte sie sich nicht bewegt. Denn wenn sie sich bewegte, musste sie in die Realität zurückkehren. Und alles war leichter, als das.
Das Zimmer war in oranges Licht getaucht. In weiter Ferne ratterte der Zug über die Gleise. Unter ihrem Fenster zwitscherten Vögel und auf der Straße unterhielten sich zwei Frauen. Ein Baby schrie. Als wäre nichts geschehen. Isabella wollte sich die Ohren zuhalten, wollte die Geräusche aussperren, doch sie durfte sich nicht bewegen.
Unten im Haus wurde eine Tür geschlossen. Sie hörte Schritte auf der Treppe. Kurz blieben sie vor ihrem Zimmer stehen, doch dann bewegten sie sich weiter. Daisy klapperte in der Küche mit Töpfen und Geschirr.
Eine Fliege drehte summend eine Runde über ihrem Gesicht. Sie setzte sich auf ihre Wange. Ihre Füße kitzelten auf ihrer Haut. Isabella führte eine Hand zu ihrem Gesicht, um sie zu verscheuchen.
Die Fliege verschwand, doch sie hatte sich bewegt.
Der Bann war gebrochen.
Ihr Magen knurrte. Sie hatte so großen Hunger, dass ihr beinahe übel war. Ihre Hände begannen zu zittern. Plötzlich spürte sie, dass ihr ganzer Körper schmerzte. Keine Sekunde länger würde sie so liegen können.
Sie schwang die Beine aus dem Bett und wankte kurz, als das Blut in ihre Füße schoss, dann trat sie ans Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und blendete sie. Sie öffnete das Fenster, um Luft hereinzulassen und griff nach der Scheibe Brot, die auf dem Teller auf ihrem Nachttisch lag. Sie war eingetrocknet, hart und schmeckte nicht, doch wenigstens beruhigte sie ihren Magen ein wenig.
Als Isabella vor den Spiegel trat, erkannte sie das Mädchen, das ihr entgegenblickte, kaum wieder. Ihre Haare hingen strähnig über ihre Schultern, dunkle Schatten lagen unter ihren Augen und ihr Gesicht war blass und eingefallen.
Wie eine Leiche, dachte sie, bevor die Übelkeit sie übermannte. Beide Hände an den Mund gepresst rannte sie ins Badezimmer und übergab sich lauthals ins Waschbecken.
*
Zwei Tage später saß Isabella am Fenster. Es war dunkel geworden und die Sterne glitzerten millionenfach am klaren Nachthimmel. Sie war erschöpft und unendlich müde. Noch nie hatte es sie so viel Kraft gekostet, einfach nur am Tisch zu sitzen oder ein paar kurze Worte mit ihrem Vater zu wechseln. Daisy hatte ihr Tee gekocht. Auch sie war blass um die Nase und eine tiefe Trauer erfüllte ihren Blick. Sie war zu ihrer Familie gekommen, als Meredith gerade ein paar Tage alt gewesen war. Ihr Tod hatte sie getroffen.
Der Tee war kalt geworden. Isabella hatte nur ein paar wenige Schlucke davon getrunken. Sie fühlte sich, als würde sie von außen zusehen. Als wäre sie gar nicht richtig da. Alles um sie herum zog an ihr vorbei, ohne sie mitzunehmen. Sie bewegte sich nur von ihrem Zimmer in die Küche, und von dort ins Badezimmer.
Immerhin. Ein Fortschritt.
Aber gerade wünschte sie sich nur, sich wieder in ihr Bett zu verkriechen und in diese gefühllose Starre zurück zu fallen, aus der sie vor zwei Tagen erwacht war. Zurück zu fallen und nicht mehr aufzustehen.
In wenigen Stunden war Merediths Beerdigung.
Die Sterne sahen schön aus. Wie Glitzer, der auf einem schwarzen Tuch verstreut war. Alles wirkte so friedlich, so ruhig. So wie früher.
Aber es war nicht friedlich und es war erst recht nicht so wie früher.
Die Welt drehte sich weiter und Sekunde um Sekunde, Stunde um Stunde, verging das Leben. Bald würde sich niemand mehr dafür interessieren, dass Meredith fehlte. Wenn genug Zeit vergangen war.
Wie oft hatte jemand gesagt: Die Zeit heilt alle Wunden. Aber das war nicht wahr. Die Zeit heilte nicht alle Wunden, nein, sie verursachte sie auch. Aus unschuldigen, unbeschwerten Kindern wurden Erwachsene.
Und manchmal starben sie schon vorher.
Der Vollmond stand heute hoch am Himmel und warf ein ungewöhnlich helles Licht auf die Stadt. Isabella legte die Stirn gegen das kalte Glas ihres Fensters und starrte die Hochhäuser in der Ferne an, ohne zu blinzeln. Sie fröstelte, doch eine Decke zu holen, kostete zu viel Kraft.
Da - eine Bewegung. Sie rührte sich nicht, doch ihre Augen folgten dem Punkt, der weit weg hoch oben über ein Dach huschte. Sie sah zu, wie er sich näherte. Weitere Punkte schlossen sich an. Sie sprangen von einer Dachkante auf die nächste, bewegten sich blitzschnell und kaum sichtbar.
Runner, die sich ein nächstes Opfer suchten. Eine neue Familie, die sie zerstören konnten. Ein neues Leben, das sie nehmen wollten.
Denn sie waren es gewesen, die Meredith getötet hatten.
Die Stimme ihres Vaters hatte sich in ihre Erinnerung gebrannt. Leise und nüchtern hatte er ihr davon erzählt, als hätte er es erwartet.
Sie hatten sie von einem Hochhaus gestürzt. Am Fuße des Hauses hatte man sie gefunden. Das war das letzte, woran sich Isabella erinnerte. Danach war sie in diese Leere getaucht, aus der sie Tage später in ihrem Bett aufgewacht war.
Sie wusste nicht, warum sie sich ausgerechnet Meredith ausgesucht hatten. Sie wusste nicht, warum sie ihr Zeichen getragen hatte und warum sie sie getötet hatten. Sie wusste nur eines, und das mit Sicherheit: dass sie die Runner hasste.
Sie hasste sie aus tiefstem Grunde ihres Herzens.
Isabella sah ihre Schwester vor sich, auf der Straße liegend, die gebrochenen Gliedmaßen von sich gestreckt und mit offenen, leeren Augen, die sie verfolgten, im Schlaf und im Wachzustand.
Sie wünschte sich, wenigstens noch einmal mit Meredith sprechen zu können. Sie wollte Antworten - nein, sie brauchte sie. Warum hatte sie ihr nichts erzählt? Warum hatte es so weit kommen müssen?
"Weil du sie verraten hast.", flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf. "Hättest du nichts gesagt, würde sie noch leben."
Aber das stimmte nicht. Sie hatte ihren Eltern von dem Zeichen erzählt, aber sie war nicht auf dem Dach gewesen. Die Runner waren es, die sie gestoßen hatten.
Nein, sie durfte nicht auf die Stimme in ihrem Kopf hören. Sie wollte sich nur selbst die Schuld geben, weil niemand sonst da war. Weil niemand vor ihr stand, dem sie ihren Tod vorwerfen konnte. Die Runner waren gesichtslose Wesen, die niemand je zu fassen bekam.
Sie setzte sich an den Flügel und legte ihre Finger auf die Tasten. Wie von selbst fing sie an zu spielen. Das einzige Lied, das sie mit Meredith gemeinsam gespielt hatte. "Der Mond über den Dächern". Es war ein Kinderlied und doch hatte sein Klang Meredith immer verzaubert.
Die Töne klangen dunkel und einsam ohne die zweite, helle Stimme. Isabella hielt inne. Ein Ton hing in der Luft, bis er langsam verklang.
Nie wieder würde das Lied so klingen wie früher.
Sie sprang auf und fegte die Blumenvase von ihrem Nachttisch. Rasende Wut hatte sie erfüllt. Die Runner hatten ihr genommen, was am wichtigsten war.
Sie durften nicht damit davonkommen.
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Runner - Die Jagd beginnt
Science FictionDie Erde, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Zu viel Schaden haben Kriege und Verwüstung angerichtet. Isabella lebt gut behütet in Ashville, einer Stadt, die aufgebaut wurde, um seine Bewohner zu schützen. Keine Bedrohung dringt über die Stadtm...