Als Isabella am nächsten Tag zur Schule ging, war sie froh, wieder etwas Zeit zum Nachdenken zu haben. Und das war dringend nötig, denn noch nie in ihrem Leben war sie so verwirrt gewesen. Sie wusste genug, um ihrer Mutter von den Runnern zu erzählen. Sie kannte den Weg zum Versteck mittlerweile selbst und konnte Wachmänner hinführen, konnte ihnen sagen, wie sie den Runnern das Leben schwermachen konnten, indem sie die Wege auf die Dächer abschnitten. Wenn sie sie verriet, würde sie nicht mehr rennen müssen. Nie mehr.
Eine Erleichterung – und doch versetzte dieser Gedanke ihr einen kleinen Stich. Nicht die Dächer. Die würde sie nicht vermissen. Die Runner zu verraten. Denn, das wusste sie, der Hohe Rat würde nicht zimperlich mit ihnen umgehen. Sie würden sie einsperren und gefangen halten, bis sie so alt waren, dass sie nicht einmal mehr richtig springen konnten. Ihre Mutter würde dafür sorgen, dass sie ihre gerechte Strafe erhielten. Aber – war sie denn gerecht? Was hatten die Runner eigentlich getan? Sie rebellierten gegen die Regierung, warfen Flugblätter zu Boden und erschreckten unschuldige Menschen auf dem Markt. Sie waren nicht so gefährlich, wie Isabella immer gedacht hatte. Wie sie gedacht hatte, nachdem Meredith gestorben war. Die ganze Zeit hatte sie ihnen die Schuld an ihrem Tod gegeben. Wenn ihre Schwester kein Mitglied gewesen wäre, wäre sie nie gestorben. Und doch erinnerte sie sich an den letzten Run, an den Moment, als sie von Todesangst erfüllt am Rande eines Hochhauses gehangen war. Und Blue sie gerettet hatte. Sie hätten auch Meredith gerettet, wenn es ihnen möglich gewesen wäre, dessen war sie sich mittlerweile sicher.
Aber sie hatten jemanden umgebracht, erinnerte sie sich. Den Wachmann, auf dem Dach der Schule, nach dem Rook getreten hatte. „Besser einer von ihnen, als einer von uns.", hörte sie Blues Stimme in ihrem Kopf. Und irgendwie hatte er Recht. Denn Rook hatte die Runner beschützt. Die Runner und sie selbst. Hätte er nicht so gehandelt, hätte der Wachmann sie erwischt – und sie selbst als Isabella Almond erkannt.
Vielleicht musste sie es ihrer Mutter nicht sagen. Es gab eine weitere Möglichkeit. Wenn sie den Runnern sagte, dass es für sie von nun an zu gefährlich war, weil ihre Mutter etwas ahnte, dann musste sie nicht mehr zurückkommen. Sie musste nicht mehr auf die Dächer, musste sich nicht mehr in lebensgefährliche Situationen begeben – ohne, dass die Runner geschnappt wurden.
Und wenn sie je wieder Hass auf die Runner verspüren sollte, wenn sie je einem geliebten Menschen etwas antun sollten, dann kannte sie ihre Geheimnisse.
Zu Isabellas Unglück hatte sich ihr Alkoholausrutscher unter den Schülern herumgesprochen, auch wenn niemand wusste, wer es gewesen war. Nachdem alle Schüler ihre Plätze in den Klassenzimmern eingenommen hatten, ertönte die Stimme der Direktorin über die Lautsprecher, die erklärte, dass von nun an alle Taschen vor Unterrichtsbeginn durchsucht würden und wenn noch ein Schüler mit Alkohol erwischt werden würde, würde man ihn sofort der Schule verweisen. Isabella starrte mit hochrotem Kopf auf dem Tisch, während ihre Klassenkameradinnen um sie herum zu tuscheln begannen und sich fragten, wer denn das Mädchen war, das sich Gerüchten zufolge betrunken hatte. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als Louise sie fragte, ob sie gehört hatte, wer es gewesen war, und gab sich die größte Mühe, ein ebenso ratloses Gesicht aufzusetzen.
Als die ersten Stunden zu Ende waren, reihte sie sich zwischen allen anderen Schülern in die Schlange ein, die zum Schulhof führte, wo sie ihre Pause verbringen sollten. Erschöpft lehnte sie sich draußen an die Mauer und schloss die Augen. Wie gerne wäre sie gerade eines der Mädchen, die nichts anderes im Kopf hatten, als sich zu fragen, wer gegen eine der wichtigsten Schulregel verstoßen hatte, und die eine Minute später die Gedanken zu den neuesten Schönheitstrends schweifen ließen.
„Sicher war sie es.", drang eine Stimme an ihr Ohr. „Ich würde mich auch betrinken, wenn meine Schwester gestorben wäre."
Isabella öffnete die Augen. Ganz in ihrer Nähe stand eine Gruppe Studentinnen, die, wie sie erkannte, in Merediths Stufe gewesen waren.
„Ihr Tod ist sicher nicht das Problem. Aber ihr wisst doch, was man sich erzählt. Sie soll den Runnern beigetreten und von einem Hochhaus gestürzt sein."
„Aber sie soll für die Regierung gearbeitet haben."
Die Neugier glitzerte in ihren Augen, als sie aus den Augenwinkeln zu ihr hinübersahen. Isabella starrte auf ihre Füße und versuchte, nicht auf ihr Gespräch zu achten. Doch es war leichter gesagt als getan.
„Bist du dir sicher? Glaubst du, die Runner sind so dumm und lassen sich täuschen?"
„Aber aus welchem Grund sollte Meredith sich ihnen angeschlossen haben? Die Runner sind nur Feiglinge, die zu hässlich sind, um sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und zu wenig Geld haben, etwas daran zu ändern. Natürlich ist es der einfachste Weg, gegen alle zu wettern, die im Leben alles richtig gemacht haben."
Isabella bemerkte, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Sie lockerte die Finger und versuchte, sich auf einen Vogel zu konzentrieren, der durch die Luft flog und in der Nähe auf dem Ast eines Baumes landete. Doch die Stimmen der Studentinnen waren zu laut, um sie zu überhören.
„Wenn das stimmt, würde ich mich auch betrinken. Peinlich, wenn die eigene Schwester zu einer solchen Gruppe überläuft."
In diesem Moment war es, als hätte jemand einen Schalter in Isabellas Kopf umgelegt. Ohne es kontrollieren zu können, schnellte sie nach vorne und stürzte sich auf das Mädchen, das zuletzt gesprochen hatte. Die Studentin schrie auf.
„Das nimmst du zurück!", schrie Isabella und schüttelte sie an den Schultern. Eine andere Studentin packte sie von hinten und zerrte an ihrer Bluse. Isabella spürte, wie der Stoff riss, doch es war ihr egal. Sie wollte, dass das Mädchen zurücknahm, was es gesagt hatte, über Meredith, über die Runner und über sie selbst.
Plötzlich riss die Studentin die Augen auf. Die Menschen um Isabella herum fuhren zurück und starrten sie mit Erschrecken in ihren Gesichtern an. Stille trat ein. Isabella atmete schwer. Was war los? Sie ließ von der Studentin ab und drehte sich kurz im Kreis. Eine kleine Traube an Schülern hatte sich bereits um sie versammelt und alle starrten sie an.
„Runner!", schrie plötzlich ein Schüler. Isabella fuhr herum, in Erwartung, schwarz gekleidete Gestalten hinter sich zu erblicken. Aber da stand niemand. Und dann erst verstand sie, dass der Finger nicht auf irgendeinen Punkt hinter ihr gerichtet war, sondern auf sie selbst.
Die schreckensstarren Gesichter ihrer Mitschüler waren auf sie gerichtet.Isabella wagte es für einen Moment nicht, den erschreckenden Gedanken zuzulassen. Dann erst fand sie den Mut und verdrehte mit rasendem Herzen langsam den Kopf, bis sie aus den Augenwinkeln auf ihre Schulter blicken konnte. Das Loch, das in ihre Bluse gerissen war, war genau so groß, dass das Zeichen der Runner deutlich zu sehen war. Die schwarze Farbe stach auf ihrer hellen Haut hervor.
Die Schüler wichen zurück, Angst und Panik in ihren Gesichtern.
Isabella zog sich den Stoff der Bluse wieder über die Schulter, doch es war zu spät. Lehrer rannten herbei, von der Unruhe angelockt.
„Sie hat die Markierung!", rief die Studentin. „Das Zeichen der Runner. Auf ihrer Schulter."
„Alle Schüler sofort in die Klassenzimmer zurück!", rief ein Lehrer. „Der Unterricht geht weiter!"
Keiner der Umstehenden bewegte sich, doch er packte Isabella grob am Arm und zog sie mit sich ins Innere des Schulgebäudes. Mit klopfendem Herzen folgte sie ihm durch die Gänge und die Blicke ihrer Mitschüler klebten in ihrem Rücken, noch lange, nachdem das Schultor hinter ihr ins Schloss gefallen war.
Der Lehrer öffnete die Tür zu einem leeren Klassenzimmer und schickte sie hinein. Hinter ihr zeigte ihr ein summendes Geräusch, gefolgt von einem mechanischen Klicken, dass er die Tür verriegelt hatte. Es überraschte sie nicht, dass sie eingesperrt wurde, und doch hätte sie zu gern gewusst, was sie mit ihr vorhatten.
Ratlos stand sie in der Mitte des Raumes und warf einen Blick zum Fenster, um zu sehen, ob noch immer ein Tumult auf dem Schulhof herrschte, doch von ihrer Position aus konnte sie es nicht erkennen und sie wagte es nicht, näher ans Fenster zu gehen, wollte sie doch neugierigen Blicken ausweichen.
Stattdessen ließ sie sich niedergeschlagen auf einen Tisch sinken und wartete. Nur wenige Stunden war sie zufrieden gewesen mit ihrem Plan, die Runner nicht zu verraten und nun hatte sie ihn selbst zerstört. Wieder einmal. Wer auch immer kommen würde, sie musste erklären, warum sie das Zeichen trug. Und wenn sie heil aus der Sache herauskommen wollte, musste sie die Wahrheit sagen. So, wie es von Anfang an ihr Plan gewesen war.
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Runner - Die Jagd beginnt
Science FictionDie Erde, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Zu viel Schaden haben Kriege und Verwüstung angerichtet. Isabella lebt gut behütet in Ashville, einer Stadt, die aufgebaut wurde, um seine Bewohner zu schützen. Keine Bedrohung dringt über die Stadtm...