Amber Almond saß am Kopfende des Tisches. Ihre blonden Haare waren an ihrem Hinterkopf zu einem strengen Knoten gebunden und die hellblauen Augen sahen nicht auf, als Isabella das Zimmer betrat. Ihr Vater hatte seinen üblichen Platz gegenüber seiner Frau eingenommen. Er rieb gedankenverloren mit den Fingern über seinen sauber gestutzten Bart. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Obwohl er sich nie über seine Arbeit in der Klinik beschwerte, wusste Isabella, dass sie ihn hin und wieder belasten musste. Schließlich war er auch nicht mehr der Jüngste.Als Isabella ihren Stuhl zurückzog, sah ihr Vater auf. Er lächelte und vertrieb damit ein Stück der Unsicherheit, die sie noch immer erfüllte. Wenigstens so lange, bis Meredith die Tür öffnete und den Speiseraum betrat. Ohne Isabella anzusehen, ging sie an ihr vorbei und ließ sich auf ihren gewohnten Platz sinken.
Nichts erinnerte mehr an die aufgebrachte, verwirrte Meredith, der sie vorher begegnet war. Ihre Haare waren zu einem sauberen Zopf geflochten und das Makeup neu aufgetragen. Sie trug wieder eine Bluse mit langen Ärmeln. Isabella ertappte sich dabei, wie sie auf ihren Unterarm starrte, um zu sehen, ob das schwarze Zeichen durch den dünnen Stoff schimmerte.
Daisy betrat den Raum und riss Isabella aus ihren Gedanken. In ihren Händen trug sie eine schwere, dampfende Suppenschüssel und begann, ihre Teller zu füllen. Ihr Hausmädchen war eine kleine, zierliche Frau um die vierzig, mit einer ehemals sehr krummen Nase, auf der jetzt ein großes Pflaster klebte. Jahrelang hatte sie das Geld für die Operation zusammengespart und nun endlich, nachdem Victor Almond ihr einen Sonderpreis angeboten hatte, hatte sie es sich leisten können, ihre Nase begradigen zu lassen.
Seit über einer Woche trug Daisy das Pflaster nun bereits, obwohl Victor sie mehrmals darauf hingewiesen hatte, dass das nicht nötig wäre. Die Operationen waren nichts, was man verheimlichen musste. Im Gegenteil. Sie zeigten, dass man vermögend genug war, um sie sich leisten zu können. Je makelloser ein Mensch war, desto reicher musste es sein, und so zeigten die Menschen gerne, wenn sie etwas an sich verändert hatten.
Nur die Narben sollten möglichst schnell wieder verschwinden.
Isabella tauchte ihren Löffel in die Suppe. Sie schmeckte süßlich und ein wenig scharf, aber sie wusste nicht, welche Zutaten Daisy verarbeitet hatte. Sie hatte sich nie dafür interessiert, war es doch unwahrscheinlich, dass sie in Zukunft selbst kochen musste.
„Wie war es heute in der Schule?", fragte ihr Vater und griff nach einer Scheibe Brot.
Meredith antwortete nicht, sondern rührte stumm mit ihrem Löffel in ihrem Teller, als hätte sie seine Frage nicht bemerkt.
„Gut.", sagte Isabella. „Nichts Besonderes." Schnell nahm sie einen Löffel Suppe, um Zeit zu schinden. Sie musste ein Gespräch beginnen, bevor ihre Eltern Verdacht schöpften, dass irgendetwas nicht stimmte.
„Louise hat mir eine Geschichte erzählt.", sagte sie schließlich, obwohl sie wusste, dass ihre Mutter nicht begeistert sein würde. „Es soll ein Feuer gegeben haben. Im Viertel der Streuner."
Amber sah nicht von ihrem Teller auf. "Du weißt doch, wie es im Viertel der Streuner zugeht. Alle paar Tage bricht dort ein Feuer aus. Wenn deine Freundin nichts Besseres zu erzählen hat, solltest du dich nach geeigneteren Bekannten umsehen."
Streuner – die zweite Gruppe neben den Runnern, die eine Bedrohung für die Menschen Ashvilles darstellten. Früher – lange vor Isabellas Geburt – hatten sie unter ihnen gelebt, auf den Straßen Ashvilles. Sie hatten unter freiem Himmel geschlafen, Mülltonnen geplündert und Spaziergänger bedroht. Anfangs waren es nur wenige gewesen, doch mit der Zeit waren es immer mehr geworden. So viele, dass sich die Bewohner Ashvilles in ihren eigenen Häusern nicht mehr sicher gefühlt hatten und so hatte man sie in ein eigenes Viertel verfrachtet, abgeschirmt vom Rest der Bevölkerung.
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Runner - Die Jagd beginnt
Science FictionDie Erde, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Zu viel Schaden haben Kriege und Verwüstung angerichtet. Isabella lebt gut behütet in Ashville, einer Stadt, die aufgebaut wurde, um seine Bewohner zu schützen. Keine Bedrohung dringt über die Stadtm...