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Am liebsten hätte Isabella ihren Plan sofort umgesetzt, aber sie musste warten, bis es dunkel wurde. Unruhig lief sie in ihrem Zimmer auf und ab, bis sie endlich hörte, dass ihre Eltern zu Bett gingen. Trotzdem zwang sie sich, noch nicht sofort loszulegen. Sie musste sicher sein, dass ihre Eltern fest schliefen, oder sie riskierte es, entdeckt zu werden. Bis weit nach Mitternacht saß sie am Fenster und starrte in den Nachthimmel, ständig auf der Suche nach kleinen schwarzen Punkten, die sich flink über die Dächer bewegten. Erst als sie das leise Schnarchen ihres Vaters durch die Tür hörte, fühlte sie sich sicher genug.

Mit zitternden Fingern knöpfte sie ihr Kissen auf und zog das schwarze T-Shirt heraus. Konnte sie die Aufmerksamkeit der Runner besser erregen, als mit einem schwarzen Kleidungsstück? Mit klopfendem Herzen öffnete sie ihre Bluse und zog das T-Shirt über den Kopf. Dann trat sie das erste Mal vor den großen Wandspiegel und betrachtete sich.

Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas Schwarzes getragen. Sie konnte nicht sagen, dass es ihr besonders gut stand. Der Kontrast zu ihrer blassen Haut und den hellblonden Haaren ließ sie bleich wirken. Kurz stellte sie sich vor, wie ihre Mutter reagieren würde, würde sie in diesem Moment das Zimmer betreten.

Trotzdem fühlte es sich gut an. Meredith hatte es getragen und wenn Isabella ihre Nase im Stoff vergrub, war es, als könnte sie den Geruch ihrer Schwester wahrnehmen. Bevor sie sich auf den Weg machte, steckte sie das Foto von Meredith und sich selbst in ihre Hosentasche. Vielleicht war ihre Schwester so bei ihr. Sie brauchte jetzt ihre Unterstützung. Mehr als je zuvor.

Das letzte Mal hatte sie den Dachboden vor vielen Jahren betreten. Bevor er nach den Vorstellungen ihrer Mutter zu einem Arbeitszimmer umgebaut worden war, dass sie hin und wieder nutzte.

Sie drückte die silberne Klinke der Tür, die zur Treppe führte, nach unten. Lautlos glitt sie auf. Hier im Haus musste sie sich keine Sorgen um quietschende Angeln oder knarrende Türen machen. Alles war in perfektem Zustand. Jetzt kam ihr das gelegen.

Trotzdem hielt sie den Atem an, als sie Stufe für Stufe nach oben schlich. Sie betrat verbotenes Gebiet. Ihre Mutter hatte ihr und Meredith verboten, sich in dem Arbeitszimmer herumzutreiben. Wahrscheinlich befürchtete sie, sie könnten etwas durcheinanderbringen.

Das Zimmer selbst war groß und nahm beinahe die gesamte Fläche des Dachbodens ein. Lediglich auf der rechten Seite gab es noch einen Raum, in dem alte Gegenstände und Möbel gelagert wurden, die im Haus nicht mehr benötigt wurden. Das Zimmer, in das bald auch Merediths Sachen gebracht werden würden.

Das größte Möbelstück in Ambers Arbeitszimmer war der hölzerne Schreibtisch, in dessen Front das Wappen Ashvilles eingeschnitzt war. Er musste ein Vermögen gekostet haben, obwohl nur ihre Mutter ihn je zu Gesicht bekam. An allen Wänden waren Regale nach oben gezogen, in denen sich Aktenordner bis zur Decke stapelten. Isabella hatte keine Ahnung, was in ihnen aufgezeichnet war. In einem anderen Moment hätte sie sich kurz Zeit genommen, um darin herumzublättern, doch heute interessierte sie sich nicht dafür.

Durch ein schmales Dachfenster warf das Mondlicht einen hellen Streifen auf den Boden, der fast bis zu ihren Füßen reichte. Zielstrebig ging sie auf das Fenster zu. Es war der beste und vermutlich einzige Weg, um aufs Dach zu gelangen. Sie drückte den Hebel herum und versuchte es aufzuschieben. Es klemmte. Sicher war es seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Mit der Schulter stemmte sie sich gegen das Glas. Sie musste es schaffen. Ihr Plan durfte nicht durch ein klemmendes Fenster zunichtegemacht werden.

Mit einem Klicken gab der Widerstand nach und das Fenster schwang auf. Kalte Luft wehte ihr entgegen und wirbelte durch ihr Haar. Isabella stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Mit beiden Händen griff sie an den Fensterrahmen und versuchte sich nach oben zu stemmen, doch ihre Füße lösten sich kaum mehr als ein paar Zentimeter vom Boden. Sie ließ sich zurücksinken und sah sich um. Sie musste etwas finden, das sie als Treppe nutzen konnte. Mit schnellen Schritten war sie beim Schreibtisch ihrer Mutter angelangt und zog, so leise wie möglich, den Bürostuhl mit sich. Die Rollen hinterließen ein leises Klacken, jedes Mal, wenn sie über die Kante eines Brettes fuhren.

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt