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Das Lachen verebbte und eine gespannte Stille legte sich über den Raum. Auch wenn keine Fenster einen Blick nach draußen zuließen, wussten sie doch, dass die Sterne am Himmel standen und der Mond sein mattes Licht auf die Dächer der Stadt warf. Die Runner rutschten enger zusammen.

Im Schein einer angezündeten Öllampe, zauberte Fish Schatten an die Wand. Anfangs verstand Isabella nicht, was er zeigen wollte. Doch dann, ganz plötzlich, wurde aus den Schatten eine Geschichte. Ein kleiner Fisch schwamm einsam in einem Meer, das voller Gefahren war.

Lev half ihm auf der Bühne. Mit einem Tuch warf er einen Schatten an die Wand. Die schwarze Dunkelheit verschluckte alles, sie kam immer näher, bis sie den Fisch beinahe erreicht hatte, der hektisch hin und her schwamm. Plötzlich ließ Lev das Tuch fallen. Für einen Moment schien der Fisch zu verschnaufen, da kam ein anderer, viel größerer Schatten und begann ihn zu jagen. In letzter Sekunde konnte er sich retten, dann sank er erschöpft zu Boden. Da kam ein anderer Fisch und half ihm nach oben, wo eine Gruppe Fische auf ihn wartete. Fröhlich schwammen sie nun ihre Kreise.

Fish und Lev verbeugten sich und die Runner klatschten laut.

Es war eine einfache Geschichte, knapp dargestellt und nicht besonders originell. Und trotzdem spürte Isabella einen Kloß im Hals. Sie beugte sich zu Jackson. „War das seine Geschichte?"

"Seine. Meine. Die von jedem in diesem Raum.", sagte er leise.

Isabella nickte. Sie verstand, was er damit sagen wollte. Alleine war man verwundbar, aber nicht in einer Gruppe. Nicht mit seiner Familie, die er nach all den Gefahren gefunden hatte.

Seine. Meine. Die von jedem in diesem Raum.

Aber es war nicht ihre. Nicht ihre Geschichte.

Fish verließ die Bühne und machte Platz für Jemina, die ihr hellbraunes Haar zu einem langen Zopf gebunden hatte, der ihr über die Schulter fiel. Sie setzte sich an den Rand der Bühne und begann mit leiser, melodischer Stimme, ein Lied zu singen. Der Klang jagte einen Schauer über Isabellas Rücken. Es war, als löste Jeminas Stimme etwas in ihr aus. Ein lange verlorengeglaubtes Gefühl. Nicht nur ihr schien es so zu gehen. Viele der Runner schlossen die Augen und ließen sich von den Worten tragen. Isabella konzentrierte sich auf den Text.

„Dunkle, klare Sternennacht

Brüder liegen auf der Wacht

Schwestern sitzen gut versteckt

Seelen alle blutbefleckt

Hoffnung ihre Kreise zieht

Angst, Furcht, Leid und Tod besiegt

Jedes Herz nun lauter schlägt

Unsern Glauben weiter trägt

An die Freiheit den bereits

Unsere Eltern ihrerseits

Trugen tief in Hirn und Herz

Ausgelöscht ist aller Schmerz"

Leise stimmte ein weiterer Runner mit ein. Isabella erkannte Cubes dunkle Stimme. Sie kannten das Lied, denn immer mehr von ihnen begannen, den Text mitzusingen. Die Stimmen setzten sich zusammen und wurden zu einem einzigen, wunderschönen Klang, der ihr eine Gänsehaut auf den Körper zauberte.

„Weite Himmel, tiefes Blau

Nur noch grün, kein weiß und grau

Klares Wasser, klare Luft

Süße Freiheit, dieser Duft

Freie Erde, freies Land

Alles neu und doch bekannt

Durch die Bäume rauscht der Wind

Freies Leben, freies Kind."

Der letzte Ton verklang, doch für einen Moment blieben die Runner still sitzen. Keiner regte sich, als spürte jeder noch die Musik und wollte sie festhalten, noch für einen Augenblick.

Erst als Jeremiah wieder auf die Bühne kletterte, lösten sie sich aus ihrer Starre.

„Wie es die Tradition verlangt, ist nun unser neustes Mitglied, Is, an der Reihe."

Erschrocken sah Isabella auf. Sie sollte etwas aufführen? Warum hatten sie ihr das nicht früher gesagt? Sie hatte sich auf nichts vorbereitet.

Die Runner hatten sich alle zu ihr umgewandt und starrten ihr erwartungsvoll ins Gesicht.

„Ich kann nichts.", sagte Isabella schnell.

„Das stimmt nicht.", rief Cube. „Du kannst spielen, oder?" Er deutete zum Klavier.

Er hatte Recht. Wenn sie etwas konnte, dann Klavier spielen. Allerdings hatte sie keine Noten dabei und in der Aufregung der letzten Wochen war sie nur selten motiviert gewesen, an ihrem Flügel zu üben.

„Niemand erwartet, dass es perfekt ist.", versuchte Phoebe sie zu beruhigen. Vermutlich sah man ihr die Unsicherheit an.

Aber Phoebe hatte Recht. Es war kein Auftritt vor dem Hohen Rat, vor der Regierung oder bei einem Fest der Stadt, bei dem alle Einwohner Ashvilles versammelt waren. Die Runner erwarteten nicht von ihr, dass sie perfekt spielte.

Entschlossen erhob sie sich von ihrem Platz und ging zum Klavier hinüber. Sie war froh, dass sie mit dem Rücken zu den Runnern saß, denn sie fürchtete, ihre gespannten Blicke würden sie nur nervöser machen.

Als sie ihre Finger auf die Tasten legte, verschwand die ganze Nervosität mit einem Schlag. Wie von selbst begann sie zu spielen. Der Mond über den Dächern. Das Lied, das sie in- und auswendig konnte. Wie sehr hatte sie die Musik vermisst! Die Töne klangen rostig und schief und zauberten ihr doch ein Lächeln ins Gesicht. Sie musste nicht perfekt sein. Nur sie selbst.

Für einen Moment vergaß sie, dass sie sich tief unter der Erde befand, umgeben von einer Gruppe Menschen, die sie vor ein paar Wochen noch gehasst und gefürchtet hatte. Es war, als hätte eine Wärme den Raum erfüllt, wie sie sie lange nicht mehr gespürt hatte.

Nachdem der letzte Ton verklungen war, lagen ihre Finger noch einige Sekunden auf den Tasten, als wollte sie den Moment festhalten. Dann erst drehte sie sich um und sah die Runner unsicher an. Sie hatte nicht erwartet, dass sie in Beifall ausbrachen, doch wenigstens über ein höfliches Klatschen hätte sie gefreut. Ja, das Klavier klang schief und ein paar Mal hatte sie sich verspielt. Aber war sie wirklich so schlecht gewesen?

Erst beim zweiten Hinsehen erkannte sie, dass die Runner sie stumm und mit bestürzten Gesichtern ansahen. Eine Träne lief über Phoebes Wange und tropfte in ihren Schoß.

„Was ist los?", fragte Isabella erschrocken.

Phoebe lächelte. „Das war das einzige Lied, das Mere je für uns gespielt hat. In ihrer ersten Nacht der Lichter."

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt