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Möglichst leise, um ihre Eltern nicht zu wecken, zog sie die Schubladen des Schreibtisches heraus, schob Stifte, Schulhefte und lose Blätter hin und her, und konnte doch nichts Ungewöhnliches entdecken. Nein, der Schreibtisch wäre ein zu unsicheres Versteck gewesen. Sie ging zum Bett auf die andere Seite des Zimmers und kniete sich vor das Nachtkästchen.

Isabella schluckte und spürte heiße Tränen in ihren Augen, als sie dasselbe Foto von sich und Meredith erblickte, das auch sie selbst in ihrem Zimmer stehen hatte. Im Gegensatz zu ihrem steckte es jedoch nicht säuberlich in einem silbernen Rahmen, sondern war an den Rändern abgegriffen und lag auf dem Nachttisch, als hätte Meredith es eben noch angesehen und achtlos wieder dort abgelegt. Isabella strich mit einem Finger über das Papier, als könnte sie so Meredith berühren. Entschlossen steckte sie das Foto in die Tasche ihres Schlafanzugs. Sie wollte nicht, dass es in einer Kiste verpackt auf dem dunklen Dachboden verschwinden würde, sollten ihre Eltern irgendwann Merediths Zimmer ausräumen.

Sie zog die Schublade des Nachtkästchens heraus, doch außer einem Buch als Nachtlektüre war es leer. Allgemein wirkte der Raum sehr unpersönlich. Wo waren Merediths Fotos? Wo waren ihre Zeichnungen? Ihre persönlichen Gegenstände?

Als hätte sie schon länger nicht mehr hier gelebt, dachte Isabella. Sie ließ sich zu Boden gleiten und sah sich ratlos um. War das Bild alles, was sie heute Nacht finden würde?

Doch noch weigerte sie sich aufzugeben. Meredith war nicht dumm. Sicher hatte sie keinen Hinweis auf die Runner offen liegen lassen.

Wo konnte Meredith also etwas versteckt haben, von dem sie auf keinen Fall wollte, dass jemand es fand? In ihren Zimmern gab es keine losen Holzdielen, wie in den Büchern, die sie schon gelesen hatte, und auch keinen Schrank mit doppeltem Boden. Isabella zwang sich, die aufkeimende Verzweiflung zu unterdrücken. Sie musste versuchen, klar zu denken!

Wo würde sie selbst etwas so Wichtiges verstecken? Etwas, das niemand finden durfte? Für einen Moment schloss sie die Augen und sah ihr jüngeres Selbst, die zehnjährige Isabella, wie sie einen Brief ihrer Schule in den Kissenbezug stopfte. Ganz tief zwischen die Federn. Ja, der Kissenbezug war stets ein sicheres Versteck gewesen. Konnte Meredith tatsächlich der gleiche Einfall gekommen sein?

Mit zitternden Fingern knöpfte sie den Stoff auseinander und steckte eine Hand in die Füllung. Die Federn piekten gegen ihre Finger.

Nichts.

Enttäuscht zog sie ihre Hand wieder zurück - da streifte sie etwas.

Weich schmiegte es sich gegen ihre Finger, doch es war keine Feder. Mit klopfendem Herzen zog sie es heraus.

Schwarzer Stoff kam zum Vorschein. Isabella schüttelte ihn auseinander. Ein T-Shirt. Einfach, schwarz, und doch begann ihr Herz schneller zu schlagen. In keinem Kleiderschrank Ashvilles würde man ein schwarzes Kleidungsstück finden. Schwarz war die Farbe der Runner, der Rebellen, der Unruhestifter. Wer es wagte, diese Farbe in der Öffentlichkeit zu tragen, riskierte eine sofortige Festnahme. Weiß war die Farbe der Reinheit und der Unschuld, die Farbe der Stadt. Alles war in hellen Tönen gehalten: Kleidung, Häuser, Möbel, ja sogar der Asphalt auf den Straßen wirkte strahlend und hell und von den tausenden Füßen, die sich täglich über ihn bewegten, unberührt. Weiß war sauber, weiß war perfekt. Friede liegt in der Perfektion.

Die anfängliche Euphorie sackte in sich zusammen. Ein T-Shirt. Nichts weiter. Kein Hinweis auf ein Versteck. Kein Zettel. Keine Karte.

Nichts.

Mit einem Seufzer der Enttäuschung erhob sie sich und sah sich ein letztes Mal in Merediths Zimmer um. Das Zimmer bot keine weitere Möglichkeit eines Verstecks. Ihr Plan, von dem sie sich so viel erhofft hatte, sackte in sich zusammen.

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt