Das erste Mal seit Merediths Tod saß Isabella zusammen mit ihren Eltern beim Abendessen. Nur wenige Stunden waren seit der Beerdigung vergangen. Stumm saßen sie nebeneinander und starrten auf ihre Teller. Das einzige Geräusch war das Besteck, das über das Porzellan kratzte. Am liebsten hätte Isabella sich wieder in ihr Bett verkrochen, doch ihren Eltern zuliebe war sie hier. Sie zwang sich, ein paar Bissen zu nehmen, auch wenn es sich anfühlte, als würde sie auf einem trockenen Stück Pappkarton kauen. Daisy huschte beinahe lautlos durchs Zimmer. Der Kummer stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie bewegte sich vorsichtig, als hätte sie Angst, jede falsche Bewegung würde einen Donnerschlag auslösen.
Seit der Trauerzeremonie hatten ihre Eltern kein Wort gesprochen. Das Auftauchen der Runner hatte sie aufgewühlt. Auch Isabella konnte an nichts anderes mehr denken. Sie hatte gehofft, nach der Beerdigung ein Stück Ruhe zu finden, doch im Gegenteil. Wenn sie die Augen schloss, sah sie sie vor sich, wie sie auf dem Dach standen und auf sie herunterstarrten. Ihre Hände zitterten vor Wut und sie konnte sie nicht beruhigen. Sicher saßen die Runner jetzt zusammen und lachten über ihren gelungenen Auftritt. Noch mehr Angst hatten sie gesät, noch mehr Unglück.
Amber schob ihren Teller zurück. Auch sie hatte kaum etwas angerührt, sondern das Essen nur in kleine Stücke geschnitten, die auf ihrem Teller verstreut lagen.
„Ich gehe schlafen.", sagte sie. „Wartet morgen nicht mit dem Frühstück. Ich werde noch vor dem Morgengrauen zur Arbeit aufbrechen."
„Arbeit?", fragte Isabella leise, ohne den Blick von ihrem Teller zu nehmen. „Du gehst arbeiten?"
„Was erwartest du? Dass ich hier sitze und warte, dass die Runner eine neue Aktion planen?", herrschte ihre Mutter sie an. "Morgen ist ein neuer Tag. Die Menschen zählen auf mich."
Isabella legte ihr Besteck ein wenig zu heftig auf den Tisch. Amber sah sie erschrocken an. Ihr Vater hörte auf zu essen und beobachtete sie aus den Augenwinkeln.
„Wie kannst du einfach so zur Tagesordnung übergehen?", fragte Isabella und ihre Stimme wurde laut. Noch nie hatte sie es gewagt, so mit ihrer Mutter zu sprechen. Heute war es ihr egal. Sie verstand nicht, wie Amber so sein konnte. So kalt, so beherrscht, während sie selbst nicht einmal Sinn darin sah, aus dem Bett aufzustehen.
„Es ist mein Beruf, Ashville vor den Runnern zu schützen.", sagte ihre Mutter kalt, wischte sich mit einer Serviette den Mund ab und schob ihren Stuhl zurück.
„Bis jetzt schützt du nicht einmal deine eigene Familie.", murmelte Isabella.
Amber erstarrte.
„Bella, du tust deiner Mutter Unrecht.", sagte ihr Vater, doch es war bereits ausgesprochen. Daisy huschte beinahe unbemerkt aus dem Zimmer.
„Ich gebe jeden Tag mein Bestes.", sagte ihre Mutter zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Sie ergeben sich nun mal nicht freiwillig und die Wachmänner, mit denen ich arbeiten muss, sind unfähig."
Mit wenigen Schritten hatte sie die Tür erreicht, doch Isabella war noch nicht fertig.
„Hast du deshalb Meredith zu ihnen geschickt?"
Amber fuhr herum. „Was fällt dir ein?"
Isabella konnte sich nicht mehr kontrollieren. Es war, als hätte sich ein Ventil geöffnet und die ganze Wut, die sich in ihr angestaut hatte, platzte heraus.
„Wie konntest du das tun?", rief sie. Heiße Tränen schossen ihr in die Augen, als sie endlich aussprach, was ihr seit der Beerdigung nicht mehr aus dem Kopf ging. „Wie konntest du deine eigene Tochter zu ihnen schicken? Warum hast du-"
„Ich habe es nicht getan.", unterbrach Amber sie. Ihre Stimme bebte vor Zorn.
Isabella stutzte. „Was?"
Victor legte das Gesicht in seine Hände, als wollte er sich abschotten. Amber atmete schwer.
„Ich habe sie nicht geschickt. Ich dachte, so gut kennst du mich.", sagte sie leise und mit bemüht kontrollierter Stimme. „Ich habe nichts davon gewusst. Nie hätte ich sie in so eine Gefahr gebracht."
„Aber wer hat sie dann geschickt?", fragte Isabella verdutzt. Sogar die Tränen hatten aufgehört zu fließen. "Imogene?"
Victor sah auf und wechselte einen Blick mit seiner Frau. Kaum merklich schüttelte er den Kopf, doch sie wandte sich Isabella zu.
„Niemand hat sie geschickt.", sagte sie. „Sie war ein Runner."
Die Wahrheit schnürte Isabella die Kehle zu und sie wusste, dass es die Wahrheit war. Sie sah es am zusammengepressten Mund ihrer Mutter und an den traurigen Augen ihres Vaters.
"Ich hätte es nie zugelassen. Ich habe nicht gewusst, dass sie ein Runner ist. Erst, als du von dem Zeichen gesprochen hast.", sagte Amber.
"Aber warum hat Magnus auf der Beerdigung gesagt, dass sie für den Hohen Rat gearbeitet hat?" Isabellas Stimme war kaum mehr ein Krächzen.
"Nur der Hohe Rat weiß es.", sagte ihre Mutter. "Was denkst du, passiert mit unserer Glaubwürdigkeit? Mit meiner Glaubwürdigkeit? Ich bin die Frau, die am härtesten gegen die Runner kämpft und ausgerechnet meine Tochter schließt sich ihnen an? Die Menschen würden über mich lachen. Sie würden mich als unfähig erklären, da ich nicht einmal erkenne, was direkt vor meiner Nase sitzt. Jetzt wird Meredith als Heldin in Erinnerung bleiben. Willst du, dass sie als Verräterin beschimpft wird? Dass diese Schande über unsere Familie fällt?"
Ihr Vater schob seinen Stuhl zurück und schloss ihre Mutter in die Arme. Isabella saß auf ihrem Stuhl, starrte auf den Boden und wusste nicht mehr, was sie fühlen sollte.
*
Ihre nackten Füße hinterließen kein Geräusch auf dem glatten Parkettboden, als Isabella die Tür ihres Zimmers öffnete und auf den dunklen Flur trat. Seit ihrem Tod hatte Isabella es nicht gewagt, Merediths Zimmer zu betreten. Wie eine Schranke der Angst hatte die Tür sie abgehalten. Vor ein paar Tagen hatte sie gehört, wie jemand, vermutlich ihre Eltern, in das Zimmer gegangen war, doch sie schienen nichts angerührt zu haben. Vielleicht waren sie einfach hineingegangen und hatten versucht zu begreifen.
Nichts im Zimmer hatte sich verändert. Helles Mondlicht warf silbrige Streifen auf Merediths Habseligkeiten. Eine Bluse lag achtlos über den Stuhl geworfen, als hätte sie sie gerade erst abgestreift. Ein Hauch ihres Parfüms lag in der Luft.
Als wäre sie nur kurz hinausgegangen, dachte Isabella und schauderte.
Sie musste sich zusammenreißen. Schließlich war sie aus einem bestimmten Grund hier.
Das Bild der Runner bei Merediths Beerdigung ließ sie nicht mehr los. Tagelang hatte sie in ihrem Zimmer gegrübelt, was sie tun konnte, wie sie sich an ihnen rächen konnte. Die Antwort hatte sie schnell gefunden, die Umsetzung dagegen würde sich als schwieriger gestalten.
Wenn die Wachmänner sich schon als unfähig erwiesen, dann würde sie eben diejenige sein, die sie suchen und finden würde. Alles würde sie über die Runner herausfinden, sie zerstören, nehmen, was ihnen am wichtigsten war. So, wie sie es bei ihrer Familie getan hatten.
Einen Plan zu entwickeln, wie sie ihr Ziel erreichen konnte, war schwerer als gedacht. Sie konnte ihren Eltern nicht von ihrem Vorhaben berichten. Niemals würden sie zulassen, dass sich Isabella bei den Runnern einschlich. Nicht, nachdem ihre erste Tochter gestorben war.
Nein, sie musste ihren Plan geheim halten. Wenigstens am Anfang. Je weniger Menschen davon wussten, desto besser. Sie hatte keine Ahnung, ob die Runner ihr glauben würden, aber sie musste es versuchen. Doch zuerst musste sie sie finden. Und wenn das nicht einmal den Wachmännern gelang, wie sollte sie es dann schaffen?
Ihre Eltern würden ihr nichts sagen, selbst wenn sie etwas wussten. Also blieb ihr nichts anderesübrig, als sich auf ihre einzige Hoffnung zu verlassen: dass Meredith etwas in ihrem Zimmer versteckt hatte.
Was sie zu finden erwartete, wusste sie nicht. Einen Hinweis, eine Karte, irgendetwas, das ihr den Aufenthaltsort der Runner verriet.
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Runner - Die Jagd beginnt
Science FictionDie Erde, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Zu viel Schaden haben Kriege und Verwüstung angerichtet. Isabella lebt gut behütet in Ashville, einer Stadt, die aufgebaut wurde, um seine Bewohner zu schützen. Keine Bedrohung dringt über die Stadtm...
