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Isabella antwortete nicht. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. Kate war die erste, die diese Vermutung geäußert hatte. Aber es war eine Lüge. Ihre Mutter hätte um jeden Preis verhindert, dass die Wachmänner Meredith etwas antaten. Auch wenn Blue etwas anders behauptete: die Regierung war gegen Gewalt. Die Wachmänner auf dem Dach hatten den Runnern nichts getan. Sie hatten sie nicht verletzt und nicht versucht, sie zu töten. Jackson war der einzige, der noch jemanden mit sich in den Tod gerissen hatte.

„Kate und ich haben immer gesagt: keiner kann sterben, solange der andere lebt.", sagte Blue. „Nicht im Sinne von unsterblich. Aber wir dachten, wir sind sicher, wenn der andere da ist. Wenn wir wissen, dass es ihm gutgeht."

Er starrte auf seine Finger. „Und jetzt bin ausgerechnet ich derjenige, der sie umgebracht hat."

Isabella sah ihn erschrocken an. „Warum denkst du das?"

„Ist das nicht offensichtlich? Ich habe sie nach unten geschickt. Ich habe entschieden, wer von ihnen gefangen wird. Wenn sie sterben, ist es meine Schuld. Hätte ich nicht angeordnet, dass sie die Dachluke öffnen sollen, wären die Wachmänner vielleicht niemals aufs Dach gekommen."

Sondern wären zwischen brennenden Büchern festgesessen, dachte Isabella, doch sie sprach es nicht aus.

„Du konntest das nicht wissen.", sagte sie stattdessen. „Niemand konnte das wissen."

Niemand, außer ihr selbst. Aber das war nicht wahr. Sie hatte nicht wissen können, dass ihre Mutter auf die Runner lauerte, dass sie sie schnappen wollte. Oder doch? War es so überraschend gekommen?

Isabella suchte nach Worten, die Blue trösten konnten, doch es war vergeblich. Wie sollte sie ihn von Schuldgefühlen befreien, die sie selbst von innen zerrissen? Minutenlang saßen sie nebeneinander im Dunkeln, ohne ein Wort zu sagen, bis ihre Atemzüge sich anpassten und die Zeit stillzustehen schien.

Irgendwann atmete Blue tief ein. „Ich habe dir noch nie erzählt, wie ich Kate kennengelernt habe, oder?" Sie schüttelte den Kopf. Ihre Neugier war geweckt. Sie wusste nichts über Blues Vergangenheit.

Er setzte sich aufrechter hin. „Bis ich zehn Jahre alt war, war ich ein wunderschöner, perfekter, blonder Junge, mit blauen Augen und guten Schulnoten. Ich war ein Kind, auf das jedes Elternpaar stolz gewesen wäre."

„Das dachte ich mir.", sagte Isabella. „Dass du nicht bei den Streunern geboren wurdest." Er sah sie nicht an und reagierte nicht auf ihre Worte. Seine Augen waren auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.

„Alles, was ich wollte, war mit einem Ball im Garten zu spielen und Spaß zu haben. Ich wollte herumtoben und mich schmutzig machen und einfach nur Kind sein. Aber meine Eltern haben mich Tag für Tag in perfekte Klamotten gesteckt und mir verboten, draußen zu spielen. Trotzdem stahl ich mich hin und wieder raus. Eines Abends passierte es dann. Ich schlich mich nach draußen, obwohl ich schon lange in meinem Bett liegen sollte.Ich begann, durch die Straßen zu streunen. Dann stürzte ich, riss mir das Knie auf. Ich wollte nach Hause, aber alles sah so gleich aus. Ich hatte mich hoffnungslos verlaufen. Plötzlich kam ein junges Paar vorbei, das mich nach Hause brachte. Meine Eltern waren so wütend, sie haben mich nur angeschrien. Mutter sagte, wenn ich so etwas noch einmal mache, würde sie mich bei den Streunern aussetzen. Natürlich hätte sie das nicht getan, ich sollte schließlich weiter ihr Vorzeigekind sein und ich war ihr einziger Sohn." Er lachte bitter. „Aber ich war jung und naiv. Ich hatte Angst, dass sie es wirklich tut. In derselben Nacht habe ich wenige Sachen zusammengepackt, Geld aus der Haushaltskasse gestohlen und bin über das Dach abgehauen. Ab diesem Zeitpunkt war ich sozusagen Aussteiger aus der Gesellschaft. So wie du."

Unruhig rutschte Isabella hin und her. Wenn Blue wüsste, dass sie die Schuld daran trug, dass ihre Mutter von dem Run auf die Bibliothek erfahren hatte, würde er ihr nichts von alledem erzählen.

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt