Selten hatte Isabella so ungeduldig auf die nächste Nacht gewartet. Doch diesmal spürte sie keine Freude, keine Aufregung und auch keine Angst. Die Wut ließ sie den ganzen Tag durch ihr Zimmer wandern. Sie wollte die Runner zur Rede stellen und hatte sich bereits einen Schwall an Worten zurechtgelegt.
„Was habt ihr euch dabei gedacht?", rief sie, als sie schließlich mit wutverzerrtem Gesicht in der Mitte des Wohnquartiers stand. Es war ihr völlig egal, ob die Runner sie für hysterisch hielten. Sie wollte Antworten und eine Entschuldigung.
„Du wolltest es doch selbst. Du hast mich förmlich angefleht.", sagte Blue.
„Ich war betrunken!", ihre Stimme rutschte in eine höhere Lage. „Du hättest mich nicht ernst nehmen dürfen."
„Du hast gesagt, du willst nun endgültig ein Teil der Runner sein und nicht mehr zurückkehren.", rief Ezra.
„Das habe ich ganz sicher nicht gesagt!", herrschte Isabella ihn an und biss sich sofort auf die Zunge, als die Runner sie überrascht ansahen.
„Es ist kein harmloses Zeichen!", rief sie schnell, um nicht noch mehr Misstrauen auf sich zu ziehen. „Niemand in meiner Familie weiß, dass ich ein Mitglied der Runner bin. Wenn das rauskommt, bin ich in echter Gefahr. Ihr hättet mich wenigstens warnen können."
„Wir wollten es dir sagen!", versuchte Jackson sich zu verteidigen. „Aber du wolltest nicht zuhören."
„Warum ist es so schlimm, das Zeichen zu tragen?", mischte sich nun ausgerechnet Kate ein. „Willst du kein Runner sein?"
Sie sahen sie an, mit großen Augen. Gespannt.
„Doch.", rief Isabella schnell. „Natürlich. Ich wollte nur den Zeitpunkt der Markierung selbst bestimmen."
„Nun, das hast du getan.", sagte Blue. „Wir sind nicht für deine Fehler verantwortlich."
Mit einem Kopfschütteln stand er auf und verließ zusammen mit Kate den Raum.
Keineswegs besänftigt ließ Isabella sich auf eine Bank fallen und schnaubte. Wenigstens eine Entschuldigung hatte sie erwartet. Aber natürlich gaben die Runner ihr die Schuld.
„Es steht dir.", sagte plötzlich eine Stimme. Isabella blickte auf und war überrascht, Phoebe vor sich stehen zu sehen. „Was?"
„Die Markierung. Es macht dich irgendwie... rebellisch."
Isabella schenkte ihr ein schwaches Lächeln. Rebellisch war nicht gerade das, was sie sein wollte.
"Außerdem braucht jeder Runner eine Markierung. Sonst gehörst du nicht richtig dazu."
Isabella nickte. Sie wünschte sich, Phoebe sagen zu können, dass sie kein richtiger Runner war. Dass sie nie einer werden wollte.
„Willst du Fish und mir in der Küche helfen?", fragte Phoebe.
Eigentlich hatte Isabella keine Lust, sondern wollte lieber noch jemanden anschreien und ihre aufgestaute Wut auslassen. Doch sie musste sich zusammenreißen. Sie hatte die Runner bereits verärgert und sich beinahe verraten.
Über so etwas Alltägliches wie Küchendienst hatte sie bisher noch nicht nachgedacht und das Essen immer ganz selbstverständlich angenommen. Doch heute kam ihr die Abwechslung gerade recht. Sie folgte Phoebe in die Küche und ließ sich von Fish zeigen, wie sie die Tomaten am besten schneiden konnte. Zuhause übernahm Daisy diese Aufgaben, doch seltsamerweise fühlte es sich ungewohnt beruhigend an, neben Fish zu stehen und hin und wieder ein lobendes Lächeln seinerseits für ihre Gemüsewürfel zu ernten.
Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie erst bemerkte, dass Jeremiah zu ihr getreten war, als er ihre Schulter berührte. Erschrocken fuhr sie herum und er wich zurück, als die Spitze ihres Messers ihm gefährlich nahekam. Schnell legte Isabella es auf die Arbeitsfläche.
„Du fühlst dich noch nicht, wie ein Runner, oder?", fragte er.
Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Jeremiah stoppte sie. „Du musst dich nicht verteidigen. Ich kann es verstehen. Ehrlich. Es ist schwer, zwei Leben zu führen. Aber ich weiß, was dir helfen wird."
„Was meinst du?"
„Morgen ist ein besonderer Tag. Es findet wieder ein Run statt. Aber wenn du dich noch nicht wieder bereit dafür fühlst-"
„Ich bin bereit.", rief sie hastig.
„Bist du dir sicher?"
Nein. Sie war sich überhaupt nicht sicher, ob sie schon wieder das Glück herausfordern wollte. Aber ihr blieb kaum eine andere Wahl, wenn sie ihm beweisen wollte, dass sie wirklich auf ihrer Seite stand.
Sie drehte Jeremiah ihre Schulter zu, auf der das Zeichen der Runner prangte. „Ich bin ein Runner. Das hast du selbst gesagt."
*
Isabella war aufgeregt, als sie pünktlich nach dem Abendessen am nächsten Tag hinter Cube durch den Tunnel hastete. Es musste ein spezieller Run sein, wenn Jeremiah der Meinung war, dass sie sich danach mehr wie ein Runner fühlen würde. Aber was erwartete sie? Auf einen fahrenden Zug aufzuspringen war anscheinend nicht besonderes. Stundenlang hatte sie gegrübelt, ob sie sich tatsächlich ein weiteres Mal auf eine so waghalsige Situation einlassen sollte. Jeremiah hatte ihr eine Ausrede wie auf dem Silbertablett präsentiert. Sie hätte den Run hinauszögern können und hatte sich letztendlich doch dafür entschieden. Sie war viel zu neugierig.
Trotz ihrer Aufregung bemühte sie sich diesmal, sich den Weg einzuprägen. Es kam ihr gar nicht mehr so schwer vor, nun, da er sie nicht mehr durch Umkehren und im Kreis drehen zu verwirren versuchte.
Als sie das Versteck betraten, lachten die Runner, alberten herum und waren so aufgedreht, wie Isabella sie noch nie gesehen hatte. So große Mühe sie sich gab, noch wütend wegen der Markierung zu sein, so sehr war sie gespannt darauf, was sie ihr zeigen wollten. Es musste etwas wirklich Besonderes sein, denn ihre Augen funkelten und der Raum war von einer aufgeregten Atmosphäre erfüllt.
„Los, bevor es dunkel wird.", rief Blue und wieder machte sich eine kleine Gruppe mit ihr auf den Weg.
Diesmal war das Rennen leichter. Isabella merkte, dass es wichtig war, auf keinen Fall nach unten zu sehen, also richtete sie ihren Blick nach vorne, auf Blues Rücken geheftet. Es war, als würde ihr Körper von selbst arbeiten, als hätte er nie etwas anderes getan. Wie von allein sprangen ihre Füße ab, sie flog durch die Luft und landete sicher auf dem nächsten Hausdach. Denn eigentlich, dachte sie, war das Rennen auf den Dächern nicht schwerer, als im Übungsraum. Egal, wie weit der Boden unter ihr entfernt war, der Sprung war der gleiche, als wenn sie nur zwei Linien überquerte. Der Kopf, so hatte Blue gesagt, musste ausgetrickst werden. Dann verschwand auch die Angst. Und Isabella hatte in letzter Zeit Erfahrungen im Lügen gesammelt.
Irgendwann kamen die runden Dächer der Gewächshäuser in Sicht. Die Abendsonne spiegelte sich auf den rautenförmigen Glasscheiben wieder und warf das Licht hundertfach zurück. Blue hielt Isabella eine Hand hin und zog sie auf das Dach. Das Glas war glatt und rutschig, doch sie konnte die Füße an den Eisenstangen, die die Glasplatten an ihrem Platz hielten, abstützen. Für einen kurzen Moment fühlte sie sich auf das Dach der Schule zurückversetzt und sah sich mit klopfendem Herzen um, ob nicht in diesem Moment ein Wachmann aus einer Dachluke sprang. Wie erleichtert sie war, dass Rook diesmal kein Teil des Runs war!
Das Glas war milchig und so konnte sie nicht erkennen, was sich in dem Gewächshaus unter ihnen befand. Nur ein blaues Licht drang in einem regelmäßigen Blinken durch das von unten zu ihnen hinauf.
War das das Ziel? Wollten sie sie hierherbringen? Aber was wollten sie auf dem Dach der Gewächshäuser? Blue wies sie leise an, an ihrer Position zu warten.
„Ich will eine Botschaft hinterlassen, bevor wir weiterrennen.", sagte er und kletterte ein paar Meter nach oben, bis er sich auf halber Höhe des Daches befand. Isabella beobachtete, wie er seine Hand in einen kleinen Beutel steckte, der an seinem Gürtel hing. Als er sie herauszog, war sie kohlegeschwärzt.
Mit einem Grinsen warf er einen Blick zurück, dann presste er die Hand auf das Glas. Ein schwarzer Handabdruck blieb darauf zurück.
„Ich hoffe, sie freuensich über die Botschaft.", rief er. „Wir wollen doch nicht, dass sie unsvergessen."
DU LIEST GERADE
Runner - Die Jagd beginnt
Science FictionDie Erde, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Zu viel Schaden haben Kriege und Verwüstung angerichtet. Isabella lebt gut behütet in Ashville, einer Stadt, die aufgebaut wurde, um seine Bewohner zu schützen. Keine Bedrohung dringt über die Stadtm...
