17.

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Sie schienen Stunden zu gehen. Zumindest kam es Isabella so vor, auch wenn sie keine Uhr hatte, mit der sie es nachprüfen konnte. Immer wieder stolperte sie über den unebenen Boden und nur eine schnelle Hand ihrer Begleiter konnte sie abfangen. Es musste ein Tunnelsystem sein, überlegte sie, dass sich unter der ganzen Stadt erstreckte. Ob die Regierung davon wusste? Den Versuch, sich den Weg zu merken, gab sie schnell auf. Ständig wechselten sie die Richtung, kehrten um und gingen ein Stück zurück, bevor sie einen anderen Weg einschlugen. Ihre Begleiter schienen sich auszukennen, denn sie gingen zielstrebig und blieben nicht stehen. Wenn sie so oft die Richtung wechselten, um ihr die Orientierung zu nehmen, war ihr Konzept erfolgreich.

„Normalerweise geht es schneller.", sagte der Dunkelhäutige und sie meinte einen entschuldigenden Unterton in seiner Stimme zu erkennen. „Aber so können wir sichergehen, dass uns niemand folgt."

„Niemand weiß, dass ich hier bin.", erwiderte sie schnell, doch bekam keine Antwort.

Wieder gingen sie schweigend nebeneinander her. Staub kratzte in ihren Atemwegen und sie hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Ihre Beine wurden immer schwerer. Die letzte Nacht steckte ihr noch immer in den Knochen. Wenn die Runner sie loswerden wollten, dann war hier der perfekte Ort, dachte sie schaudernd. Niemand würde sie unter der Erde suchen und bevor sie den Weg zurück zum Ausgang fand, wäre sie längst verhungert, verdurstet oder von Ratten gefressen. War überhaupt noch jemand außer ihr hier? Sie hörte keine Schritte, außer ihren eigenen. Auch hatte schon lange keiner ihrer Begleiter mehr nach ihrem Arm gegriffen, um sie vor dem Stolpern zu schützen. Ihr Atem beschleunigte sich, doch es waren die einzigen Atemzüge, die sie hörte. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie hob die Hände ans Gesicht, um sich die Augenbinde abzuziehen.

„Du hast Recht. Du hast sie lange genug getragen.", hörte sie die Stimme des Dunkelhäutigen.

Erleichterung durchströmte sie. Sie hatten sie nicht alleine gelassen. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal froh über die Anwesenheit eines Runners sein würde. Ihre Finger schlossen sich um die Augenbinde, doch da packte eine andere Hand mit festem Griff ihr Handgelenk.

„Halt. Das ist gegen die Anweisungen!", rief eine unbekannte Stimme, die dem zweiten ihrer Begleiter gehören musste.

„Seit wann hältst du dich an die Anweisungen, Ezra?", fragte der Dunkelhäutige. „Sie findet den Weg auch so nicht wieder."

Die Hand blieb noch einen Augenblick unschlüssig um ihr Handgelenk geschlossen, dann lösten sich die Finger und Isabella konnte sich das Tuch vom Gesicht ziehen. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Die einzige Lichtquelle war eine Taschenlampe, die der zweite Begleiter, Ezra, in der Hand hielt. Er war nicht viel größer als sie selbst, hatte breite Schultern und kräftige Arme. Die dunkelbraunen Haare fielen ihm ins Gesicht und das Zeichen der Runner prangte an seinem Hals. Weder er noch der andere hatte schwarze Farbe auf ihre Gesichter gemalt. Vermutlich war es eine Art Kriegsbemalung und das hier war kein Krieg.

Nicht für die Runner jedenfalls.

Sie liefen weiter, doch wenigstens konnte Isabella jetzt erkennen, wohin sie trat und sich selbst auffangen, wenn sie stolperte. Der Tunnel war schmal und so niedrig, dass der Dunkelhäutige den Kopf einziehen musste, um nicht an die Decke zu stoßen. Er schien provisorisch angelegt worden zu sein, wie von Maulwürfen durch den Boden gegraben. Hin und wieder stützten Bretter die erdigen Wände ab. Kleine Steine rieselten von der Decke und an manchen Stellen waren sogar große Felsbrocken aus den Seiten gebrochen. Isabella versuchte, nicht daran zu denken, dass sich über ihnen Tonnen an Erdreich und Steinmassen befinden mussten. Sie schauderte. Allein bei der Vorstellung, die Erde würde nachgeben, stellten sich ihre Nackenhaare auf. Schnell schüttelte sie den Gedanken aus ihrem Kopf.

Der Weg zweigte sich erneut ab und sie schlugen den linken Tunnel ein, bogen um eine Ecke und standen plötzlich vor einer Tür, die ihnen den Weg versperrte. Dreimal klopfte Ezra mit der Faust dagegen, wartete kurz ab, und klopfte erneut dreimal.

„Wer ist da?", fragte eine misstrauische Stimme, die vom Holz gedämpft wurde.

"Was denkst du, wer da ist? Glaubst du wirklich, der Hohe Rat schert sich um unsere Klopfmuster?"

Ein Riegel wurde zur Seite geschoben, dann schwang die Tür auf. Ein Schwall aus Wärme und Stimmen drang ihnen entgegen. Vor ihnen stand ein Runner mit Adlernase und kurz geschorenen Haaren. „Wir leben in gefährlichen Zeiten.", sagte er und musterte Isabella aus grauen Augen. Wortlos schob der Dunkelhäutige ihn zur Seite und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Der Tunnel setzte sich noch wenige Meter fort, dann endete er in einem Loch, vor das ein Tuch gespannt war. Die Stimmen wurden lauter und schienen aus dem Raum dahinter zu kommen. Ihr Begleiter schob den Vorhang zur Seite und bat sie, einzutreten.

Sie betraten den gleichen Raum, in dem sie schon am Vortag aufgewacht war, auch wenn sie ihn kaum wiedererkannte. Wieder sah sie den halb mit Brettern beschlagenen Boden und die drei Löcher in der Wand, die ihr bereits aufgefallen waren. Eines davon führte also nach draußen. Oder besser gesagt in das Tunnelsystem, in das sie besser nicht alleine geraten wollte. Die flackernden Öllampen leuchteten heute Nacht heller und wieder vernahm sie den leichten Ölgeruch in der Luft, der von ihnen ausströmte. Obwohl sie sich an das alles noch erinnerte, kam es ihr vor, als befände sie sich in einem anderen Raum. Vielleicht, weil nicht mehr eine große Menge bedrohlich aussehender Runner um sie versammelt stand und sie anstarrte. Stattdessen saßen sie in Grüppchen verteilt, manche an den Tischen und Bänken, die die linke Hälfte des Raumes ausfüllten, andere auf dem Boden. Niemand von ihnen hatte schwarze Farbe aufgetragen, sodass sie ihre Gesichter erkennen konnte, aber noch immer wollte Meredith nicht zwischen die Runner passen. Sie hatten etwas Grobes in ihren Gesichtern, dachte Isabella, und etwas Wildes in ihrem Blick. Keiner von ihnen wirkte so zart, wie ihre Schwester, oder hatte so feine Gesichtszüge, wie ihr Vater.

Sie sah sich weiter um. Auf der anderen Seite des Raumes war aus maroden Fässern und Holzbrettern eine Art Tresen aufgebaut, auf dem mit Lebensmitteln gefüllte Kisten lagerten. Sie erkannte Tomaten, Kartoffeln und etwas, das verdächtig an ein großes Stück Fleisch erinnerte. Sie nahm sich vor, hier lieber nichts zu essen. Wer wusste, wie lange es schon ungekühlt hier lagerte? Die Runner schienen sich jedoch keine Sorgen darüber zu machen. Vielleicht sollte sie sie einfach machen lassen, dachte Isabella, und sie würden irgendwann alle an einer Lebensmittelvergiftung sterben. 

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt