Die Gespräche waren endgültig verstummt und die Runner starrten mit einer Mischung aus Neugier und Feindseligkeit zu ihr hinüber. Cube, der die Stimmung im Raum entweder nicht bemerkte, oder gezielt davon ablenken wollte, klatschte in die Hände. „Komm mit, Is, ich zeige dir dein Fach."
Mit großen Schritten ging er voraus und führte sie zum Regal, wo er auf ein Brett wies, das sich etwa auf halber Höhe befand. Ein paar Dinge lagerten darauf. Kleidungsstücke, ein Stapel Blätter, Zeichenstifte.
„Das ist belegt.", sagte Isabella und deutete darauf, als würde er es andernfalls nicht erkennen.
Cube sah kurz von ihr zum Regalbrett, dann senkte er den Blick und starrte auf seine Finger. „Das sind Meres Sachen.", sagte er leise. „Ich dachte, du möchtest sie vielleicht behalten."
Merediths Sachen. So wenige Dinge, die ihr hier zum Leben gereicht hatten und die alle eine besondere Bedeutung gehabt haben mussten. Endlich sah Isabella die persönlichen Dinge, die sie im Zimmer ihrer Schwester vermisst hatte.
„Die Kleidung müsste dir passen.", sagte Cube. „Mere hätte sicher nichts dagegen, wenn du sie trägst."
Isabella nahm eines der sorgfältig gefalteten Kleidungsstücke aus dem Regal und schüttelte es auseinander. Es war eine schwarze Hose.
„Sie hatte auch ein Paar Schuhe, aber das trug sie, als-", Cube stockte und verstummte, doch sie wusste, was er sagen wollte. Meredith hatte die Schuhe getragen, als sie gestorben war. Als man sie gefunden hatte, hatte man ihren Leichnam mitsamt der Kleidung vom Ort des Geschehens entsorgt. Wahrscheinlich hatten sie die Klamotten verbrannt. Sie bezweifelte, dass man sie mit schwarzer Kleidung begraben hatte.
Isabella wandte sich wieder den restlichen Sachen im Regalfach zu. Cube schien zu spüren, dass sie sich wünschte, sie wäre allein, denn er entfernte sich lautlos.
Mit klopfendem Herzen griff sie nach dem Stapel Papier. Sie hoffte, endlich einen Hinweis zu finden, der ihr mehr über die Runner verriet, doch sie wurde enttäuscht. Es handelte sich um Zeichnungen. Die Zeichnungen, die sie in Merediths Zimmer vermisst hatte, auch wenn sie sich ihren Inhalt anders vorgestellt hatte. Nacheinander sah sie sich die Bilder an und wurde immer erstaunter. Sie waren gut, noch besser, als sie Merediths Zeichenkünste in Erinnerung hatte. Schon lange hatte sie keines von Merediths neuen Bildern gesehen und jetzt wusste sie auch, warum.
Meredith hatte Ashville gezeichnet, oder besser, verschiedene Orte der Stadt. Isabella erkannte die Stadtmauern, den Kanal und die Zugstrecke. Ein Bild zeigte die Stadt, wie sie von einem der höchsten Hochhäuser aussehen musste. Doch nicht nur Ashville war ihr Motiv gewesen. Weite, kahle Fläche, durch die sich ein Fluss schlängelte. Bäume und Blumenwiesen, wilde Tiere und Wasserfälle, die Meredith noch nie mit eigenen Augen gesehen haben konnte.
Isabella hatte beinahe alle Zeichnungen durchgeblättert, als ihr plötzlich ein Bild ins Auge stach, das sich von den anderen abhob. Es zeigte den Jahrtausendplatz, aber nicht so, wie Isabella ihn kannte. Die Gebäude brannten. Flammen drangen aus den Fenstern und Rauch stieg in dunklen Spiralen in den Himmel. Menschen liefen durcheinander, das Wappen der Stadt an den Toren der Ratshalle war vollkommen zerstört und Rabastan Wulfs Kopf lag auf dem Boden, während mitten im Geschehen fünf schwarze Vögel in den Himmel stiegen.
Isabella ließ das Blatt sinken. War Meredith tatsächlich so gewaltbereit gewesen? Hatte sie sich wirklich gewünscht, Ashville brennen zu sehen? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie immer noch gehofft, herauszufinden, dass sie sich doch nicht in ihrer Schwester getäuscht hatte. Dass sie eine rebellische Phase durchgemacht hatte, oder einfach neugierig auf die Runner gewesen war. Ganz tief in ihrem Herzen hatte sie sogar gehofft, dass Meredith doch gegen die Runner gearbeitet hatte, um ihre Chancen auf einen Platz im Hohen Rat zu verbessern. Ein einziges Bild zerstörte ihre Hoffnungen. Meredith war ein Runner gewesen und sie hatte dafür gekämpft, Ashville zu zerstören.
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Runner - Die Jagd beginnt
Science FictionDie Erde, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Zu viel Schaden haben Kriege und Verwüstung angerichtet. Isabella lebt gut behütet in Ashville, einer Stadt, die aufgebaut wurde, um seine Bewohner zu schützen. Keine Bedrohung dringt über die Stadtm...