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Als sie am nächsten Morgen das Speisezimmer betrat, war Isabella überrascht, ihre Mutter am Tisch sitzen zu sehen. Seit Tagen hatte sie sie nur flüchtig getroffen, wenn sie spät abends von der Arbeit nach Hause gekommen war. Sie wurde den Verdacht nicht los, dass ihre Mutter nur hier war, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich zur Schule ging. Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand, doch nicht nur der wenige Schlaf belastete sie heute, sondern der Schmerz, der durch ihre Muskeln fuhr, wann immer sie sich bewegte. Ihre Arme fühlten sich an, wie Wackelpudding, und ihre Knie pochten unangenehm. Sie hatte keine Ahnung, wie sie noch einmal ein solches Training durchhalten sollte. Wieder konnte sie ein Gähnen nicht verhindern.

„Warum bist du so müde?", fragte ihre Mutter mit skeptischem Blick. „Bist du nicht rechtzeitig zu Bett gegangen?"

„Ich habe kaum ein Auge zugetan.", antwortete Isabella schnell. „Die ganze Nacht musste ich darüber nachdenken, wie meine Mitschüler heute mit mir umgehen werden."

Tatsächlich war das nicht gelogen. Zwar war das nicht der Grund für ihre Müdigkeit, doch tatsächlich war Isabella noch einige Zeit wach gelegen, weil sie sich vor der Schule fürchtete. Nicht das Lernen oder die Lehrer bereiteten ihr Sorge, sondern ihre Mitschüler, ihre Freunde, denen sie seit Merediths Tod das erste Mal begegnen würde.

„Du kannst mit hocherhobenem Kopf und voller Stolz zur Schule gehen.", sagte ihre Mutter bestimmt. „Alle werden Meredith bewundern." 

Isabella antwortete nicht. Sie wollte sie besser nicht daran erinnern, dass alles, was man den Menschen über Meredith erzählt hatte, eine Lüge war.

Wie sie erwartet hatte, waren die neugierigen Blicke eine Qual. Isabella war an Aufmerksamkeit gewöhnt, doch die hatte meistens damit zu tun, dass ihre Mutter im Hohen Rat arbeitete, oder sie selbst zu den besten Schülerinnen gehörte. Doch heute tuschelten die anderen Schüler, sobald sie in ihre Nähe kam, und gaben sich keine Mühe, ihre Neugier zu verstecken. Die Blicke klebten in ihrem Nacken und das Flüstern erfüllte die Luft, wie ein leiser Windhauch.

Was Isabella jedoch am meisten störte, war der Grund, aus dem sie flüsterten. Wie ihre Mutter prophezeit hatte, bewunderten sie Meredith und bemitleideten Isabella, weil sie eine so mutige, so großartige, so selbstlose Schwester verloren hatte. Dabei war Meredith nicht großartig gewesen. Mutig vielleicht, aber erst recht nicht selbstlos. Im Gegenteil. Aber bald würden sie einen neuen Grund zu Tuscheln haben, weil sie, Isabella, die Runner zur Strecke gebracht haben würde. Lange würde es nicht mehr dauern.

Genau genommen, dachte sie, während sie neben ihren Klassenkameraden die Hymne Ashvilles aufsagte, konnte sie alles jetzt beenden. Ihr graute davor, nachts wieder zu den Runnern zu gehen und sich erneut von Blue quälen zu lassen. Außerdem hatte sie nicht mehr herausgefunden, als sie bereits wusste. Keine Aufzeichnungen lagen in ihrem Versteck herum, sie zeigten ihr nicht den Weg dorthin und würden sie wohl so schnell nicht in ihre Geheimnise eineweihen.

„Du siehst ziemlich fertig aus.", riss Louises flüsternde Stimme sie aus ihren Gedanken. Isabella blinzelte und sah sie überrascht an. Der gleiche Wissensdurst lag in den Augen ihrer Freundin, den sie in den Gesichtern aller ihrer Schulkameraden gesehen hatte. Sie konnte es ihr nicht verdenken. Louise war schon immer neugierig gewesen.

„Das hat dich ganz schön mitgenommen, was?"

Fast hätte Isabella laut aufgelacht, doch sie riss sich zusammen. Was war das für eine Frage? Natürlich hatte der Tod ihrer Schwester sie mitgenommen. Wenn Louise nur wüsste, dass das nicht das einzige war.

„Die Runner gehören bestraft und zwar so schnell wie möglich. Bevor noch jemand umkommt.", fuhr ihre Freundin fort.

Louise hatte Recht, wenn das auch selten vorkam. Wie viel Zeit würde noch vergehen, bevor die Runner ihr den Weg zum Versteck zeigten? Würde sie überhaupt solange durchhalten, oder vorher auffliegen? Was, wenn sie sie umbrachten? Wenn sie starb, wie Meredith? Sie musste ihre Mutter einweihen. Sicher konnte sie mit der Beschreibung des Raumes schon etwas anfangen. Die Wachmänner konnten ihre Suche unter die Erde verlagern. Was konnte es dort schon geben und wie lange konnte es dauern, bis sie das Versteck gefunden hatten?

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt