15.

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Isabella schlug die Augen auf. Für einen kurzen Moment drehte sich die Welt um sie herum. Ihr Rücken schmerzte. Sie lag nicht in ihrem Bett, sondern auf hartem Untergrund. Mühsam setzte sie sich auf und sah sich um, doch bei der Bewegung schoss ein scharfer Schmerz durch ihren Kopf. Erst, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie, wo sie sich befand. Regale an den Wänden, ein Schreibtisch mit eingeschnitztem Wappen. Der Dachboden. Sie erinnerte sich, dass sie auf den Schreibtischstuhl gestiegen war. Noch immer stand er am leicht geöffneten Fenster. Sie musste gestürzt sein und sich dabei den Kopf angeschlagen haben. Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Der Mond stand hoch am Himmel, doch es konnten durchaus ein paar Stunden gewesen sein. Vorsichtig tastete sie mit einer Hand an ihren Hinterkopf und stellte erleichtert fest, dass sie nicht blutete. Wie hätte sie ihren Eltern eine Wunde erklären sollen? Sie stützte sich auf die Knie und wartete kurz, bis sich der Schwindel gelegt hatte. Sie hatte einen verrückten Traum gehabt. Richtig real hatte er sich angefühlt. Aber nein, es war absurd. Ihre Fantasie musste verrücktgespielt haben. Kein Wunder, schließlich war sie mit dem Kopf auf den Boden gestürzt.

Mit einem Ächzen rappelte sie sich auf, setzte erst das eine, dann das andere Bein auf den Boden, bis sie sicher stand. Ein seltsamer Geschmack lag auf ihrer Zunge. Sie schluckte, doch ihr Mund war trocken. Das Fenster wurde vom Wind weiter aufgedrückt. Isabella ging darauf zu und atmete ein paar Mal tief ein. Die kalte Luft tat ihr gut und ließ ihren Kopf klarer werden. Noch einmal sog sie Luft in ihre Lungen, dann schloss sie das Fenster und schob den Schreibtischstuhl an seinen ursprünglichen Platz zurück. Ihre Mutter durfte nicht bemerken, dass sie sich hier oben herumgetrieben hatte.

Plötzlich fiel ihr Blick auf ihre Hände, die die Lehne des Stuhls umklammert hielten. Rote Striemen zogen sich über beide Handgelenke. Als hätte man sie gefesselt, dachte sie. Mit einem Schlag kehrte die Erinnerung zurück. Nein, es war kein Traum gewesen. Im Gegenteil. Der Mann auf dem Dach, ihre Begegnung mit den Runnern in deren Versteck. Alles hatte sich genau so abgespielt. Sie sah an sich herunter. Das schwarze T-Shirt klebte nass geschwitzt an ihrem Körper. Von einer Sekunde auf die andere überkam sie das Gefühl, es sich vom Leib reißen zu wollen. Noch immer spürte sie den Atem des Mannes an ihrem Ohr und sah die anderen Runner auf sie hinunterstarren. Sie wollte duschen, sich den Schmutz und die Angst von der Haut waschen. Doch sie zwang sich, noch einmal tief durchzuatmen. Ihre Hände umklammerten die Stuhllehne so stark, dass alles Blut aus ihnen wich und die roten Striemen sich noch stärker abzeichneten. Es war wichtig, ruhig zu bleiben. Ihre Eltern durften keinen Verdacht schöpfen und wenn sie mitten in der Nacht die Dusche anstellte, würden sie auf jeden Fall etwas bemerken. Jetzt musste sie sich darauf konzentrieren, unbemerkt in ihr Zimmer zurück zu kommen. Mit einem letzten Blick zurück vergewisserte sie sich, dass nichts an ihren nächtlichen Besuch erinnerte, dann stieg sie leise die Treppe wieder hinunter.

*

Isabella konnte nicht schlafen. Sie kauerte am Fenster ihres Schlafzimmers, die Bettdecke fest um den Körper gewickelt. Trotzdem fröstelte sie. Noch immer dröhnte ihr Kopf. Sie lehnte die Stirn an die kalte Fensterscheibe und das Glas linderte den Schmerz. Ihre Hände hatte sie in den Ärmeln ihres Schlafanzuges vergraben, damit sie die Striemen nicht sehen musste. Das schwarze T-Shirt hatte sie sich über den Kopf gezogen, sobald sie die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich geschlossen hatte. Jetzt steckte es wieder gut versteckt in den Federn ihres Kopfkissens.

Die Runner hatten sie noch einmal betäubt, dessen war sie sich mittlerweile sicher. Sie hatten sie zurückgebracht und auf dem Dachboden abgelegt, anders konnte es nicht gewesen sein. Deshalb der seltsame Geschmack im Mund und aus diesem Grund fühlte sich ihre Zunge auch an, als wäre sie geschwollen. Isabella trank noch einen Schluck Wasser aus dem Glas, das noch vom Vortag auf ihrem Nachtkästchen stand. Sie wollte nicht wissen, womit sie sie betäubt hatten. Sie hoffte nur, dass sie es aus der Klinik gestohlen und nicht selbst zusammengebraut hatten.

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt