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Sieben hellgraue Fahnen wehten auf halbmast. Der Stoff flatterte im Wind.

Der Jahrtausendplatz war gefüllt mit Menschen. Isabella konnte sich nicht erinnern, jemals so viele Menschen bei einer Trauerzeremonie gesehen zu haben. Jeder durfte teilnehmen, doch normalerweise fanden sich nur die engsten Verwandten und Freunde ein, um den Toten zu verabschieden.

Die Nachricht vom Tod von Amber Almonds älterer Tochter hatte eingeschlagen wie eine Bombe. Nur selten starben junge Menschen in der Stadt, noch dazu war Amber Vertreterin des Hohen Rates und damit stadtbekannt.

Isabella hörte die Menschen tuscheln und auch wenn sie kein Wort verstand, wusste sie, worüber sie redeten. Sie fragten sich, woran Meredith gestorben war. Ihre Eltern hatten die Nachricht bislang zurückgehalten, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Informationen durchsickern würden.

Sie spürte die neugierigen Blicke im Nacken, spürte die Fragen wie einen Windhauch über ihr Gesicht streichen.

Nein, die meisten Menschen waren nicht hier, um zu trauern. Sie waren neugierig.

Meredith hatte Besseres verdient. Einen kleinen Kreis von Menschen, die nahe standen. Die wirklich um sie trauerten. Keinen Haufen Fremder, die nach Informationen lechzten.

Sie alle standen zur Ratshalle gewandt, an deren Wand ein riesiges Transparent befestigt war. Merediths Gesicht sah zu ihnen hinab. Ihre Augen strahlten und ihr Mund war zu einem Lächeln verzogen. Isabella konnte sie nicht ansehen.

Die Mitglieder des Hohen Rates hatten sich versammelt. Sie standen im Halbkreis nebeneinander auf den Treppen der Ratshalle. Sie kannte sie alle. Oscar Willis, Magnus Cort, Edlyn McGowan, Sage Wiltshire, Percey Locklear, Imogene Burton. Sie alle standen nebeneinander, in graue Trauerroben gekleidet. Nur in Imogenes Augen erkannte Isabella echte Trauer. Sie hatte Meredith gekannt, seit sie ein Kind gewesen war, hatte sie immer gemocht.

Amber selbst stand neben Victor an Isabellas Seite. Sie klammerte sich an seiner Schulter fest, als könnte sie sich nicht selbst auf den Beinen halten. Ihr Gesicht war schneeweiß.

Leise Musik ertönte und ließ die Menge verstummen. Die Menschen teilten sich, gaben einen Weg in ihrer Mitte frei. Auf einer Bare wurde ein Bündel nach vorne getragen - Meredith, fest in graue Tücher gewickelt. Selbst die Lautesten unter den Schaulustigen hielten den Atem an.

Der Schock traf Isabella mit voller Wucht. Die Welt wankte vor ihren Augen und Übelkeit stieg in ihr hoch. Kalter Schweiß brach in ihrem Nacken aus. Sie spürte die Hand ihres Vaters auf ihrer Schulter. Er rückte die Welt wieder gerade. Wenigstens ein Stück.

Amber brach in Tränen aus. Zitternd schlug sie sich die Hände vors Gesicht. Isabella wollte weinen, doch es ging nicht. Ihre Augen blieben trocken.

Sie erkannte das Wappen Ashvilles auf den Tüchern, als Merediths Körper auf den Treppen der Ratshalle abgelegt wurde. Imogene Burton wandte den Blick ab, als könnte sie den Anblick nicht ertragen.

Was geschah mit den Toten, wenn die Zeremonie vorbei war? Isabella wusste es nicht. Bis jetzt hatte sie noch nie einen Grund gehabt, sich damit auseinanderzusetzen. Aber plötzlich war es die einzig wichtige Frage. Wo brachten sie Meredith hin?

Magnus Cort, der oberste Richter und Vertreter des Hohen Rates für Gerichtswesen, erhob die Stimme. Erst als hunderte, tausende Stimmen sich ihm anschlossen, erkannte Isabella, dass sie die Hymne Ashvilles angestimmt hatten.

"...und den Kampf zu führen gegen die Vergänglichkeit. Denn Vergängliches wird vergessen. Und Vergessenes ist tot.", stimmte sie mit ein, obwohl sie sich nicht sicher war, ob ein Ton ihre Lippen verließ.

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt