„Ich glaube, ich bin noch nicht bereit!", stammelte Isabella. „Ich kann das nicht."
Jeremiah lächelte. Entweder er bemerkte ihre Panik nicht, oder er ignorierte sie ganz bewusst. „Wir können dir nicht mehr beibringen, als du bereits weißt."
„Ich würde lieber noch üben." Isabella hörte, wie flehend ihre Stimme klang und sie ärgerte sich darüber. Vielleicht hatte Jeremiah erwartet, dass sie in Begeisterung ausbrach, denn sie erkannte die Enttäuschung in seinen Augen, als er in die Hocke ging und beruhigend seine Hand auf ihre legte. „Ich verstehe, dass du Angst hast. Jedem geht das so."
„Ich habe keine Angst.", erwiderte sie mit zitternder Stimme und widersetzte sich dem Drang, ihre Hand wegzuziehen. „Es ist einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt."
Plötzlich lachte Jeremiah. „Glaub mir, der richtige Zeitpunkt für deinen ersten Run ist erst dann, wenn du ihn beendet hast."
Sie spürte Jacksons Hand, die ihr auf die Schulter klopfte. „Gut gemacht, Kleine. Du hast es geschafft. Bald bist du ein richtiger Runner."
Isabella schluckte und zwang sich zu einem Lächeln. Bis es soweit war, musste sie erst einmal überleben.
*
Die ganze Nacht bekam sie kein Auge zu. Die Runner taten gerade so, als wäre es die größte Belohnung, mit ihnen auf den Dächern rennen zu dürfen. Sie hatte sich bemüht beim Training, hatte alles gegeben, um sie von sich zu überzeugen. Dabei war es doch nur ihr Ziel gewesen, möglichst schnell ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass sie sie bereits nach wenigen Wochen mit auf die Dächer nehmen wollten, sondern war sich sicher gewesen, die Runner längst verraten zu haben, bevor sie sie zu einem ihrer sogenannten Runs mitnahmen. Doch es war so weit und sie hatte keine Ahnung, wie sich davor drücken konnte.
Immer, wenn sie die Augen schloss, sah sie Meredith fallen. Sah sie fallen, eingewickelt in die Leichentücher, die man an ihrer Beerdigung um ihren Körper geschlungen hatte. Und als Isabella endlich, nach Stunden, in einen unruhigen Schlaf gesunken war, fiel sie selbst. Die Stadt rauschte an ihr vorbei, immer schneller und schneller, bis sie plötzlich von Erde umschlossen war, die in ihre Lungen drang und ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie keuchte und strampelte panisch mit den Beinen, bis sie endlich schweißgebadet aus dem Schlaf hochfuhr.
Doch die Panik wollte nicht verschwinden. Im Gegenteil. Was, wenn sie wirklich stürzte? Ihre Eltern würden so enttäuscht sein, wenn sie auch ihre zweite Tochter an die Runner verloren und nie würde sie ihnen erklären können, dass es ihr einziges Ziel gewesen war, sie zu verraten.
Den Rest der Nacht wälzte sie sich hin und her und ließ sich die verschiedensten Möglichkeiten durch den Kopf gehen, wie sie sich vor dem Run drücken konnte. Sie konnte ihrer Mutter von dem Vorhaben berichten, allerdings hatte sie dann nichts erreicht und alles war umsonst gewesen. Oder sie weigerte sich, am Run teilzunehmen, doch dann würde sie bestenfalls wie ein Schwächling dastehen, im schlechtesten Fall jedoch das Misstrauen der Runner auf sich ziehen.
Bald würde sie ein ganzer Runner sein, hatte Jackson gesagt. Sie musste nur diesen einen Run hinter sich bringen. Wenn sie offiziell aufgenommen war, würden sie ihr vertrauen, sie in ihre Pläne einweihen und dann war es endlich vorbei.
In den letzten Trainingsstunden hatte sie es immer geschafft, den Abstand zwischen den Linien zu überwinden, war mühelos auf Plattformen geklettert und hatte sich am Seil festgeklammert. Ihre Arme waren stark geworden. Sie wusste, wie man rannte. Außerdem musste sie nur dem Vorderen folgen, wie Kate gesagt hatte. Wie schwer konnte das schon sein? Meredith hatte es schließlich auch geschafft.
Wieder und wieder versuchte sie, sich das einzureden. Trotzdem konnte sie wenige Stunden später in der Schule kaum stillsitzen und musste sogar ihre Lehrerin beschämt bitten, eine Frage zu wiederholen, was ihr noch nie zuvor passiert war. Es war unmöglich, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, befand sie sich doch in Gedanken bereits viele Meter über dem Boden.
Den Weg nach Hause legte sie im Eiltempo zurück, warf ihre Tasche in eine Ecke ihres Zimmers und schlich sich dieses Mal sofort wieder hinaus. Sie war froh darüber, dass der Run am Nachmittag stattfinden würde, wollte sie sich doch nicht einmal vorstellen, die Abgründe zwischen den Häusern bei Dunkelheit zu überwinden.
Am gewohnten Treffpunkt wartete Cube bereits im Schatten. Ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht, als er sie erblickte.
„Bereit für deinen großen Auftritt?", fragte er, doch vor lauter Aufregung brachte Isabella kein Wort heraus.
„Keine Angst." Plötzlich war seine Stimme sanft und leise. „Jeder war unsicher, als er das erste Mal dabei war. Aber du wirst sehen, es macht sogar Spaß."
Isabella konnte sich im Leben nicht vorstellen, dass es Spaß machen konnte, auf den Dächern herumzuklettern, dachte sie doch mit Grauen an ihren ersten waghalsigen Ausflug auf das Dach ihres Wohnhauses zurück. Aber nun war sie besser vorbereitet, sagte sie sich. Und sie musste nur überleben. War das zu viel verlangt?
Cube verband ihr auch dieses Mal nicht die Augen. Vielleicht vertraute er ihr, oder er war sich sicher, dass sie sich in ihrem Zustand den Weg sowieso nicht merken konnte. Tatsächlich gab sie sich keine Mühe, sich die Route einzuprägen. Darum würde sie sich kümmern, wenn sie den heutigen Tag hinter sich gebracht hatte.
Als sie das Wohnquartier der Runner betrat, hatte sich bereits eine kleine Gruppe versammelt. Blue stand mit Jeremiah zusammen über die Karte Ashvilles gebeugt und schien etwas mit ihm zu besprechen, während Kate ihre Stiefel schnürte und Ezra, Jackson und Rook wartend auf einer Bank saßen.
Isabellas Herz sank in die Hose. Warum musste ausgerechnet Rook an ihrem ersten Run teilnehmen? Sie war sich sicher, dass Blue und Jackson auf sie aufpassen würden, und selbst Kate wirkte, als wäre sie nach ihrem Streit positiver gestimmt, doch Rook wirkte, als wartete er nur auf eine Gelegenheit, sie vom Dach zu stoßen.
Cube räusperte sich und Jeremiah blickte auf. Als er Isabella bemerkte, lächelte er, trat einen Schritt auf sie zu und überreichte ihr eine kleine Tasche, an der zwei Schlaufen befestigt waren, mit denen man sie an einem Gürtel befestigen konnte.
„In der Tasche sind Flugblätter.", erklärte er. „Es ist deine Aufgabe, auf sie aufzupassen. Blue ist der Vordere, das heißt, du wirst seinen Anweisungen folgen, egal, was er sagt. Verstanden?"
Isabella nickte und nahm die Tasche entgegen. Sie zitterte so sehr, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und machte sich schon daran, die Tasche an ihren Gürtel zu schnallen, als Jackson ihr ein schwarzes Bündel hinhielt. „So kannst du nicht gehen.", sagte er und deutete schmunzelnd auf ihre weiße Kleidung. „Zuerst musst du dich umziehen."
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Runner - Die Jagd beginnt
Science FictionDie Erde, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Zu viel Schaden haben Kriege und Verwüstung angerichtet. Isabella lebt gut behütet in Ashville, einer Stadt, die aufgebaut wurde, um seine Bewohner zu schützen. Keine Bedrohung dringt über die Stadtm...
