13.

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Undurchdringliche Schwärze hielt sie in einem Klammergriff, als Isabella endlich wieder zu sich kam. Ihre Zunge fühlte sich seltsam pelzig an und ein fahler Geschmack erfüllte ihren Mund. Sie hatte das Gefühl, nicht genügend Luft zu bekommen. Ihr Körper war unfähig, sich zu bewegen, als würde er sich mit aller Macht dagegen sträuben. Vielleicht war sie ja tot. Sie hatte oft gehört, dass der Tod ein weißes Licht sein sollte. Ganz leicht und warm sollte man hinüberschweben in die andere Welt. Was, wenn alle sich irrten? Wenn der Tod nichts anderes war, als beklemmende, schmerzende Dunkelheit? Hatte sich Meredith auch so gefühlt?

Etwas drückte unangenehm in ihren Rücken. Ihre Finger kribbelten, als würde das Blut abgeschnürt. Plötzlich drangen Geräusche an Isabellas Ohr. Ein Rascheln, ein Flüstern. Ihr Kopf schmerzte. Plötzlich wurde sie von einer Welle der Panik überrollt. Vergeblich versuchte sie, ihre Hände zu bewegen. Nein, sie war nicht tot. Aber vielleicht würde sich das bald ändern, wenn sie es nicht schaffte, sich zu beruhigen.

Die Erinnerungen kamen zurück. Erinnerungen an den Runner auf dem Dach, an die Hand, die sich auf ihren Mund gedrückt hatte. Es musste ein zweiter Runner gewesen sein, der sie von hinten überrascht hatte. Aus dem Nichts war er aufgetaucht. Sie mussten sie betäubt und hierhergebracht haben. Aber wo war hier?

Ihr Bewusstsein wurde klarer, als sie gegen die Panik ankämpfte und sich stattdessen auf ihre Umgebung konzentrierte. Es war kalt, doch kein Wind regte sich, nicht einmal ein Luftzug. Sie musste sich in einem Gebäude befinden. Sie versuchte die Augen zu öffnen, doch es ging nicht. Ein Stück Stoff war über ihre Augen gebunden. Der Knoten drückte gegen ihren Hinterkopf.

Wieder versuchte sie, die Hände zu bewegen, doch ihre Arme waren hinter ihrem Rücken befestigt. Sie saß auf einem Stuhl, soviel erkannte sie jetzt.

Immer noch erklangen Stimmen um sie herum. Mehrere Personen befanden sich mit ihr im Raum, doch sie schienen noch nicht bemerkt zu haben, dass sie aufgewacht war. Es bestand kein Zweifel, dass es Runner waren. Wer sonst würde sie gefesselt festhalten? Sie hatte es tatsächlich geschafft. Ihr Plan war geglückt.

Die erwartete Freude darüber wollte allerdings nicht eintreten. Ihr Plan reichte nur bis zu dem Moment auf dem Dach und schloss eine Entführung nicht mit ein. Hatte sie tatsächlich erwartet, die Runner würden sich auf dem Dach in einen Plausch verwickeln lassen? Isabella ärgerte sich über sich selbst, dass sie nicht besser nachgedacht hatte, über das, was danach kam. Sie hatte sich nicht vorbereitet. Vielleicht hatte sie insgeheim nicht daran geglaubt, die Runner wirklich zu finden. Vielleicht hatte sie gehofft, es nicht zu tun.

Die Stimme ihres Vaters kam ihr wieder in den Sinn. "Ich will nicht auch noch meine zweite Tochter verlieren." Doch genau das tat er, denn die Runner würden sie nicht gehen lassen. Dessen war sie sich sicher, nachdem sie dem ersten auf dem Dach von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden war. Er hatte gelacht und da hatte sie es erkannt. Den Runnern machte es Spaß zu töten. Sie kannten keine Skrupel, kein Mitgefühl und keine Gnade. Im Gegenteil.

Plötzlich packte eine Hand sie an den Haaren und zog ihren Kopf nach hinten. Isabella keuchte auf. Sie konnte die Panik nicht länger zurückhalten. Ihr Herz hämmerte, als wollte es aus ihrer Brust springen. Sie spürte kalten Schweiß auf ihrer Stirn. Oh, warum hatte sie sich nur in so eine missliche Lage gebracht?

"Was willst du von uns?"

Die Stimme war so nah an ihrem Ohr, dass sie den heißen Atem des Mannes auf ihrer Haut spürte. Sie klang kalt und rau und auf eine leise Art aggressiv. War es der Dunkelhäutige vom Dach? Der Griff an ihrem Hinterkopf schmerzte. Sie spürte Haare aus ihrer Kopfhaut reißen.

Sie schluckte, versuchte zu sprechen, doch ihr Mund war zu trocken. Erst nach einigen Versuchen brachte sie einen Ton heraus.

"Mein Name ist Isabella Almond.", krächzte sie. "Ich bin Merediths Schwester." Sie ärgerte sich darüber, wie ängstlich ihre Stimme klang.

"Ich habe dich nicht gefragt, wer du bist.", wurde sie harsch unterbrochen. "Sondern was du von uns willst."

"Ich bin Merediths Schwester und -"

Der Mann stieß einen ungeduldigen Seufzer aus und ließ ihre Haare los. Ihr Kopf fiel nach vorne. Tränen schossen in ihre Augen.

"Du wiederholst dich.", rief er. "Wir wussten schon vorher, wer du bist. Auch wenn ich mir eurer Verwandtschaft nicht so sicher bin. Mere war nicht so begriffsstutzig."

Isabella schluckte. Mere. Er hatte Meredith bei ihrem Spitznamen genannt. Sie räusperte sich und versuchte, die Tränen zurückzudrängen. Wenigstens konnte der Mann dank der Augenbinde nicht erkennen, dass sie weinte.

"Ich wollte euch sehen.", begann sie, doch wieder unterbrach er sie.

"Viele wollen uns sehen. Aber nur wenige riskieren ihr Leben durch waghalsige Klettereien auf dem Dach, nur um einen Blick auf uns zu werfen."

Langsam wurde die Angst durch Wut verdrängt. Warum ließ er sie nicht ausreden? Er gab ihr nicht einmal die Möglichkeit, sich zu erklären. Doch was wollte sie überhaupt erklären? Die Wahrheit konnte sie jedenfalls nicht sagen.

Für ihn war das alles nur ein Spiel. So wie eine Katze mit einer Maus spielt, bevor sie sie verschlingt. Aber wenigstens konnte eine Maus ihrem Feind ins Gesicht blicken, dachte Isabella. Sie dagegen war blind und gefesselt, obwohl sie auch unter anderen Bedingungen wohl keine Chance gegen die Runner gehabt hätte. Doch sie hatte keine Wahl. Sie musste das Spiel mitspielen und hoffen, dass sie sich aus dieser misslichen Lage befreien konnte.

"Ihr wart die letzten, die Meredith lebend gesehen haben. Deshalb wollte ich mit euch sprechen.", sagte sie.

"Genau genommen waren wir nicht die letzten." Er lachte kurz und spöttisch. "Aber ich will ehrlich sein: wir haben sogar erwartet, dass du zu uns kommst."

Es überraschte Isabella weniger, als sie gedacht hatte. Deshalb waren sie tatsächlich so schnell gekommen. Sie mussten sie schon eine Weile beobachtet haben. Es war unmöglich, dass sie sie zufällig entdeckt hatten, nachts, in schwarzen Klamotten, auf einem Dach abseits ihres gewohnten Gebiets. Sie verstand nur nicht, weshalb. Die Frage brannte ihr auf der Zunge, doch es war nicht der richtige Moment, sie zu stellen.

Doch etwas verlieh ihr neuen Mut. Wenn sie erwartet hatten, dass sie mit ihnen sprechen wollte, würden sie sie nicht töten. Zumindest nicht sofort. Andernfalls hätten sie das schon lange erledigen können.

"Ich möchte von Angesicht zu Angesicht mit euch sprechen.", sagte sie laut. Zufrieden erkannte sie, dass ihre Stimme selbstsicherer klang, als zuvor. Beinahe überzeugend, dachte sie. Trotzdem erwartete sie, ausgelacht zu werden, schließlich war sie nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Doch zu ihrer Überraschung fühlte sie eine Hand an ihrem Hinterkopf. Die Augenbinde wurde ihr vom Gesicht gezogen und sie konnte endlich die Augen wieder öffnen. 

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt