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„Meredith.", flüsterte sie, bereit, die Finger vom Dach zu nehmen. Ihr einziger Gedanke. Hatte ihre Schwester sich so gefühlt? Hatte sie den Mut gehabt, die Hände zu lösen und alles zu beenden?

Eine starke Hand packte ihren Unterarm. Erschrocken riss sie die Augen auf und starrte in tiefblaue Augen. Blues Gesicht war wie ein Rettungsanker. Mit einem Satz zog er sie nach oben, bis ihr Oberkörper auf dem Dach lag und sie selbst nach vorne robben konnte. Auf allen Vieren hockte sie auf dem Dach und atmete schwer. Ihr ganzer Körper wurde geschüttelt. Um ein Haar wäre alles zu Ende gewesen. Sie kroch ein Stück weiter, als die Übelkeit sie übermannte, und übergab sich lauthals auf das Dach.

Sie rechnete damit, dass Blue angeekelt das Weite suchen würde, doch er trat an sie heran und tätschelte etwas unbeholfen ihre Schulter. „Mach sowas nicht nochmal."

Isabella wischte sich mit der Hand über den Mund und verzog ihr Gesicht zu einem gequälten Lächeln.

Nein, das hatte sie nicht vor.

*

Das eiskalte Wasser lief über ihr Gesicht und tropfte in ihren Schoß. Gänsehaut zog sich über ihren Körper, doch Isabella wollte sich nicht bewegen. Sie saß mit geschlossenen Augen auf dem Boden im Waschraum der Runner, während das Wasser der Dusche auf ihren Kopf trommelte. Sie hatte ihre Kleider nicht ausgezogen, als sie die Dusche angestellt hatte, weshalb der Stoff jetzt unangenehm an ihrem Körper klebte. Noch immer konnte sie nicht glauben, wie knapp sie dem Tod entronnen war. Es war ihr ein Rätsel, wie sie es nach ihrem Beinahe-Sturz geschafft hatte, in das Versteck der Runner zurückzukehren. Es war, als hätte der Schock sämtliche Erinnerungen an den Weg ausgelöscht.

Die dunkle Farbe tropfte von ihrem Kinn auf ihre nackten Arme, die sie vor der Brust verschränkt hatte, rann in schwarzen Tropfen daran hinunter und ließ ein seltsames Muster auf ihrer Gänsehaut zurück. Das ganze Wasser, das sich um sie herum auf dem Boden staute, hatte sich mit der Farbe, die sich aus ihren Haaren gewaschen hatte, vermischt, und bildete eine dunkelgraue Pfütze.

Ihre Zähne klapperten aufeinander, aber sie wollte das Wasser noch nicht abstellen. Wieder schloss sie die Augen und streckte das Gesicht nach vorne, sodass auch die restliche Farbe abgewaschen wurde. Wenn sie das Wasser abstellte, musste sie zurückkehren. Dann musste sie wieder stark sein. Aber was brachte es ihr, stark zu sein? Was hatte es Meredith gebracht?

Sie wollte nicht mehr stark sein müssen. Sie wollte sich in die Arme ihrer Mutter fallen lassen und schwach sein dürfen.

Plötzlich spürte sie, wie jemand sich neben sie setzte. Sie hatte niemanden hereinkommen hören, doch als sie die Augen öffnete, erblickte sie ausgerechnet Kate, die sich, ebenfalls vollständig bekleidet, neben sie auf den Boden setzte.

Für einen kurzen Moment saßen sie stumm nebeneinander, dann hörte sie Kates leise Stimme:

„Du darfst die Angst nicht an dich heranlassen. Sonst frisst sie dich auf." Sie lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen.

Isabella sah sie überrascht an. Das Wasser lief über Kates Gesicht und durchnässte langsam ihre Haare. Die Tropfen bildete dunkle Flecken auf ihrem noch immer geschwärzten Gesicht.

„Warum tun wir das?", fragte Isabella und ihre Stimme zitterte vor Kälte. „Hier leben, ohne Privatsphäre, in ständiger Angst, erwischt zu werden oder zu fallen."

Kurz dachte sie, Kate würde nicht antworten, denn noch immer hielt sie die Augen geschlossen und den Kopf an die Wand gelehnt.

„Wir sagen uns selbst, dass wir es tun, um denen eine Stimme zu geben, die nicht gehört werden.", sagte sie dann. „Um gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen. Um die Regierung zu stürzen. Das klingt alles edel und heldenmütig. Aber wir tun es, weil es die einzige Chance ist, nicht unterzugehen."

Überrascht sah Isabella sie an. Das Wasser hatte beinahe alle Farbe von Kates Gesicht gewaschen, dafür klebten ihre Haare in nassen Strähnen in ihrer Stirn.

Kate öffnete die Augen und starrte auf ihre Finger, auf denen in schneller Abfolge Tropfen landeten. „Weißt du, eigentlich unterscheiden sich die Runner gar nicht so sehr von den Streunern. Wir müssen immer Angst haben, von den Wachmännern erwischt zu werden. Wir müssen um Nahrung bangen. Wir werden gejagt, haben keine Rechte und wenn wir erwischt werden, sind wir so gut wie tot. Wir haben viele verloren. Und eigentlich noch nichts erreicht. Aber wir haben ein Ziel. Und wir haben eine Familie. Etwas, wofür sich das Leben lohnt. Das ist der Unterschied."

„Aber ist es das Richtige?", fragte Isabella. „Ist es das alles wert?"

„Haben wir eine Wahl? Wenn wir eine hätten – wenn wir die Chance hätten, in der Gesellschaft aufgenommen zu werden, dann würden einige es sicher tun. Sie würden gehen und ein neues - perfektes - Leben anfangen."

Isabella schluckte. Sie hatte immer gedacht, die Runner stünden bedingungslos hinter ihrer Meinung. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass sie kämpften, weil sie keine andere Wahl hatten.

„Würdest du gehen?", fragte sie.

„Ich würde gehen, wo immer Blue ist.", sagte Kate. „Die Runner sind meine Familie, aber-", sie lächelte, „Er ist mein Zuhause."

Das Wasser tröpfelte, dann hörte es auf. Kate blickte nach oben. „Verdammter Wasserspeicher!", fluchte sie, stand sie auf und hielt Isabella eine Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Dann sah sie sie noch einmal mit ernstem Gesicht an.

„Nur weil es das richtige ist, heißt es nicht, dass es leicht ist. Du musst dich nur immer entscheiden, was dir wichtiger ist."

Noch als Isabella in der Küche stand und Kartoffeln in kleine Würfel teilte, zitterten ihre Finger so stark, dass sie Angst hatte, sich in den Finger zu schneiden. Es war, als könnte sie noch immer ihre Beine in der Luft schlackern fühlen und das schreckliche Gefühl, bereits mit ihrem Leben abgeschlossen zu haben, wollte nicht verschwinden. Sie hatte nachgedacht. Eine Zeit lang hatte sie sich tatsächlich wohlgefühlt bei den Runnern. Vielleicht hatten sie ihr etwas gegeben, was sie vermisst hatte. Vielleicht hatte sie das Gefühl gehabt, Meredith so näher zu sein. Aber heute hatte sie gemerkt, dass das alles kein Spiel war. Ja, sie hatte manche der Runner in ihr Herz geschlossen, obwohl sie sich lange dagegen gewehrt hatte. Aber sie wollte nicht für sie sterben. Das musste ein Ende haben.

Sie hatte verstanden, was Kate meinte. Das sie zwischen dem Richtigen und dem Leichten entscheiden musste. Aber so einfach konnte man es nicht immer trennen. Kurz hatte sie gedacht, bei den Runnern zu sein, wäre das Richtige. Deshalb hatte sie es ihrer Mutter nicht sagen können. Aber es konnte nicht das Richtige sein. Und leicht war es erst recht nicht. Aber nach Hause zurückzukehren war ja auch nicht leicht. Es musste das Richtige sein. Sie hoffte es jedenfalls.

Sie nahm den Blick von ihren Kartoffelwürfeln und sah Blue und Jeremiah an einem Tisch in der Nähe stehen.

„Es ist das richtige Ziel.", sagte Jeremiah. „Die Bibliothek war zu lange sicher. Es war Genes Vorschlag. Wir müssen endlich mehr Druck auf die Regierung ausüben. Besonders jetzt, wo Is bei uns ist. Wenn wir sie verlieren, fangen wir wieder von vorne an. So etwas wie heute darf nicht mehr passieren."

„Ich habe sie aus den Augen gelassen.", gab Blue zu und Isabella senkte schnell den Blick, als er den Kopf zu ihr umwandte. „Aber das passiert nicht noch einmal."

„Meinst du, sie ist bereit, wieder zu rennen?"

Isabella spürte die Blicke beider Männer und konzentrierte sich darauf, möglichst abwesend zu wirkend.

„Ich denke, sie sollte so schnell wie möglich wieder an einem Run teilnehmen.", sagte Blue. „Wenn sie es nicht tut, wird die Angst nur größer."

Isabella halbierte eine weitere Kartoffel. Das Messer rutschte ab, landete auf der hölzernen Oberfläche des Küchentresens und hinterließ eine kleine Kerbe. Im Moment konnte sie sich nicht vorstellen, dass die Angst noch größer werden konnte. 

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt