Als sie wenige Stunden später von ihrem Wecker aus dem Schlaf gerissen wurde, war sie gleichzeitig todmüde und hellwach. Die Kopfschmerzen hatten sich gelegt, dafür brannten ihre Handgelenke umso mehr. Mühsam rappelte sie sich aus dem Bett, wankte zum Schreibtisch und nahm die frische Packung Scarimed vom Schreibtisch, die ihr Vater vor einigen Tagen aus der Klinik mit nach Hause gebracht hatte. Bis heute hatte sie es vermieden, sie zu nutzen, hatte mit dieser kleinen Tube doch alles begonnen.
Jetzt schmierte sie eine großzügige Menge der Salbe auf die roten Striemen ihrer Handgelenke. Zwar waren es noch keine Narben, aber so würden es auch keine werden und die Heilung würde beschleunigt werden. Dann knöpfte sie das Oberteil ihres Schlafanzugs auf und betrachtete die Narbe an ihrem Bauch. Sie war gerötet und von dem nächtlichen Ausflug aufs Dach gereizt, aber mit ein paar Anwendungen der Salbe würde sie endlich nicht mehr zu sehen sein.
Erst nachdem sie geduscht und sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, fühlte sie sich wacher. Sie zog sich eine Bluse mit langen Ärmeln über und war froh, dass das Wetter langsam schlechter wurde, denn so würde es niemand merkwürdig finden.
Für einen kurzen Moment fühlte sie sich an Meredith erinnert. Auch sie hatte mit ihrer Kleidung Spuren an ihrem Körper versteckt, die ihre Familie nicht sehen sollte. Isabella versuchte, das schlechte Gewissen zurückzudrängen. Die Geschichte wiederholte sich. Aber diesmal würde sie ein anderes Ende nehmen.
Ihre Mutter ging seit Tagen kurz nach Sonnenaufgang aus dem Haus und so traf Isabella nur ihren Vater beim Frühstück an, der so vertieft in seine Tageszeitung war, dass er sie kaum wahrzunehmen schien. Sie konnte die Anspannung in seinem Gesicht erkennen. Es war der erste Tag seit Merediths Tod, an dem er wieder zur Arbeit ging. Das bedeutete, fiel ihr siedend heiß ein, dass auch ihre Schonzeit fast vorbei war. Nur noch heute, dann würde sie wieder zur Schule gehen müssen, so war es mit ihren Lehrern abgesprochen. Zurück in ihren alten Alltag, der nicht mehr so war und nie mehr so sein würde, wie vorher. Schon jetzt schaffte sie es kaum, die Augen offen zu halten. Wie sollte sie einen ganzen Schultag durchhalten? Sie beschloss, diese Sorgen zur Seite zu schieben. Wenn sie es schaffte, eine weitere Nacht bei den Runnern zu überleben, konnte sie auch ein paar Schulstunden hinter sich bringen.
Den ganzen Tag versuchte sie, sich abzulenken und nicht an die bevorstehende Nacht zu denken. Sie setzte sich ans Klavier, doch ihre Finger taten nicht, was sie sollten. Auch der Versuch, für den folgenden Schultag etwas vorzubereiten, scheiterte kläglich. Es erschien ihr sinnlos und sie war unfähig, sich zu konzentrieren. Schließlich legte sie sich in ihr Bett und schaffte es tatsächlich, einige Stunden zu schlafen, bis Daisy sie zum Abendessen rief. Sie war froh, dass ihr Vater von seinem Arbeitstag erzählte und dabei ihre Aufregung nicht bemerkte, obwohl ihre Hände zitterten und einmal ihr Löffel laut klirrend auf den Teller fiel. Ihre Mutter war noch immer nicht zuhause. Sie arbeitete bis spät am Abend, stürzte sich in die Jagd nach den Runnern. Isabella tat es leid, dass sie sie am Tag von Merediths Beerdigung so angefahren hatte und doch war sie erleichtert, dass sie nicht ihren bohrenden Blicken ausgesetzt war.
Der Vortag wiederholte sich. Wieder verbrachte sie den Abend in ihrem Zimmer und wartete, bis ihre Eltern zu Bett gingen. Doch diesmal war sie nicht aufgeregt und voller Tatendrang. Sie hatte Angst. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie sich richtig entschieden hatte, erneut zu den Runnern zurückzukehren. Ständig warf sie einen Blick auf die Uhr, doch der Zeiger hatte sich jedes Mal kaum weiterbewegt. Erst, als sie sich sicher war, dass ihre Eltern fest schliefen, zog sie das schwarze T-Shirt aus dem Kissen, stahl sich die Treppe hinunter und öffnete leise die Haustür. Zum Glück hatten die Runner einen Treffpunkt außerhalb des Hauses vereinbart. So schnell würde sie nicht mehr auf ein Dach steigen.
Wieder war es eine kalte Nacht. Der Sommer war endgültig vorbei. Heute war der Himmel nicht klar, stattdessen versperrten Wolken den Blick auf die Sterne und die Straßen wurden nicht vom Mondlicht erhellt. Isabella sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand draußen unterwegs war, doch die Straße wirkte leer und friedlich. Mit einem Schaudern erinnerte sie sich an den Mann mit dem lahmen Bein, den sie hier, gleich neben der Straßenlaterne, gesehen hatte. Was, wenn er wieder hier herumschnüffelte? Sie hatte nichts, womit sie sich verteidigen konnte. Kurz lachte sie auf. Was für ein absurder Gedanke. Sie war auf dem Weg zur gefährlichsten Gruppe der Stadt, um sich bei ihnen einzuschleichen, und machte sich Sorgen, einem lahmen Mann zu begegnen, der ihr vermutlich nicht einmal folgen konnte, wenn sie vor ihm davonrannte.
Ihr Herz klopft vor Angst an ihre Brust, als sie die Straße entlanglief, immer bedacht darauf, dem hellen Schein der Straßenlaternen auszuweichen. Die Bäume in den Gärten raschelten im Wind, der ihr in alle Glieder fuhr. Hinter jedem Strauch konnte jemand stehen und sie beobachten, dachte sie. Obwohl sie sich bemühte, den Straßenlaternen auszuweichen, warf ihre helle Kleidung das Licht zurück, wie eine Zielscheibe und sie fühlte sich schutzlos und angreifbar.
Sie war froh, als sie die kleine Gasse erreicht hatte, die hinter der Haltestelle des Zuges zwischen zwei Häusern hindurchführte. Warum die Runner sie gerade hier treffen wollten, war ihr nicht klar. Aber sie hatte sich nicht getraut, zu fragen. Mit einem mulmigen Gefühl trat sie in den Schatten der Häuser. Sie zuckte zusammen, als sich etwas bewegte, doch es war nur ein Vogel, der sich hüpfend entfernte. Die Gasse war menschenleer. Sie schüttelte das schwarze T-Shirt auseinander und zog es über den Kopf. Wenigstens hatte sie diesmal daran gedacht, ein wärmeres Oberteil zu tragen. Die weißen Ärmel sahen unter dem schwarzen Stoff hervor und es schien, als schwebten ihre Arme in der Dunkelheit. Sie lehnte sich an die Hauswand. Jetzt hieß es warten. Es konnte nicht mehr lange dauern. Die Müdigkeit übermannte sie. Die wenigen Stunden, die sie am Nachmittag geschlafen hatte, waren nicht genug gewesen. Ihre Lider wurden schwerer und schwerer und schlossen sich langsam. Nur einen kurzen Moment, dachte sie.
Eine Hand drückte sich auf ihren Mund. Isabella riss die Augen auf. Sie wollte schreien, doch mehr als ein dumpfes Murmeln drang nicht aus ihrem Mund. Sie fuhr herum und sah direkt in das Gesicht des dunkelhäutigen Mannes, den sie gestern schon auf dem Dach gesehen hatte. Wieder hatte er ein breites Grinsen im Gesicht. Es schien im Spaß zu machen, sie zu erschrecken.
„Kann ich dich loslassen, ohne dass du Alarm schlägst?"
Seine Stimme war tief und warm. Sie nickte und er nahm seine Hand weg. Ihr Herz raste und alle Müdigkeit war mit einem Schlag verschwunden. Woher war er so schnell gekommen? Entweder die Runner hatten die Fähigkeit, sich absolut lautlos fortzubewegen – oder er war schon die ganze Zeit im Schatten hinter ihr gestanden und hatte sie beobachtet. Eine Gänsehaut zog sich über ihre Arme.
Der Mann griff in seine Tasche und zog ein Stück Stoff heraus. Isabella wich ein paar Schritte zurück, doch er lachte kurz, als er die Sorge in ihrem Blick sah.
„Keine Sorge. Diesmal will ich dir nur die Augen verbinden." Er wedelte mit dem Stück Stoff.
„Warum?", fragte Isabella. „Gehöre ich nicht zu euch?"
„Ein bisschen Geduld musst du noch haben."
Sie ließ es zu, dass er mit überraschend geschickten Fingern das Tuch hinter ihrem Kopf verknotete. Seine Hand legte sich um ihren Arm und er zog sie mit sich. Nach ein paar Schritten blieben sie stehen und er ließ sie los. Angstrengt lauschte sie auf seine Bewegungen. Sie hörte ein leises Quietschen und ein Geräusch, als würde etwas aus den Angeln gehoben.
„Setz dich hin.", sagte der Mann. "Und jetzt die Beine ganz langsam hineingleiten lassen."
Isabella setzte sich auf den Boden und tastete sich mit den Beinen vorwärts. Plötzlich war da nichts mehr, woran sich ihre Füße abstützen konnten. Sie rutschte unkontrolliert nach vorne und keuchte erschrocken auf. Ein Händepaar schloss sich um ihre Beine und fing sie auf. Ihre Füße trafen auf dem Boden auf. Muffiger Geruch empfing sie und trotz Augenbinde erkannte sie, dass die Helligkeit sich verändert hatte. Mit einem lauten Geräusch landete der Dunkelhäutige hinter ihr auf dem Boden, dann schien er etwas wieder zurechtzurücken.
Die Erkenntnis traf Isabella wie ein Schlag. Deshalb wurden die Runner nie gefunden. Natürlich. Wenn alle sie auf den Dächern suchten – dann war das beste Versteck unter der Erde.
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Runner - Die Jagd beginnt
Science FictionDie Erde, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Zu viel Schaden haben Kriege und Verwüstung angerichtet. Isabella lebt gut behütet in Ashville, einer Stadt, die aufgebaut wurde, um seine Bewohner zu schützen. Keine Bedrohung dringt über die Stadtm...