Der Raum hatte in etwa die gleiche Größe wie der Wohnraum, in dem sie sich vorher befunden hatten und war doch weitaus höher. Aus Eisenstangen und Holzbrettern waren Plattformen angelegt, die in verschiedenen Höhen an der Wand befestigt waren, wobei die niedrigste Plattform bis knapp unter Isabellas Hüfte reichte und die höchste sich mehr als zwei Meter über ihrem Kopf befand. In der Mitte des Raumes hing ein dickes Seil von der Decke hinab bis fast auf den Boden und an den Wänden stapelten sich alte Kisten neben losen Holzbrettern und verrostete Eisenstangen, die offensichtlich zum Bau der Plattformen genutzt worden waren. Ein modriger Geruch lag in der Luft.
„Wir können die Dächer nicht nachstellen, aber ganz unvorbereitet können wir dich auch nicht nach oben schicken.", sagte Blue und drehte sich endlich zu ihr um. Sein Tonfall machte deutlich, wie ungern er gerade hier war. Die Öllampe warf flackernde Schatten auf sein Gesicht.
Mit flinken Händen ergriff Blue das Seil, kletterte ein Stück nach oben, schwang sich auf eine der mittleren Plattformen und schaute spöttisch auf sie hinunter.
„Es ist ein Wunder, dass du es überhaupt heil auf das Dach deines Hauses geschafft hast."
Isabella versuchte, die aufsteigende Wut zu unterdrücken, die die Angst abgelöst hatte. Was bildete er sich ein? Sicher, er war stark. Viel stärker als sie. Aber so schlecht hatte sie sich auf dem Dach nicht angestellt. Ein anderer hätte es nicht einmal geschafft, vom Fenster zum Dachfirst zu klettern.
„Es war nicht besonders schwer.", erwiderte sie und versuchte, ihre Stimme möglichst gleichgültig klingen zu lassen.
„Ach ja?" Mit einem großen Schritt erklomm er die nächste Plattform. Sie ächzte unter seinem Gewicht und Isabella ertappte sich bei dem Wunsch, sie möge unter ihm einstürzen.
„Dann wollen wir mal sehen, wie gut du bist."
Endlich verstand Isabella, warum sie hier war. Ihre Sorge, die Runner wollten sie töten, war tatsächlich unbegründet gewesen. Sie versuchten auch nicht, Informationen aus ihr herauszupressen. Im Gegenteil. Blue sollte sie auf das Rennen vorbereiten.
„Worauf wartest du?", fragte er.
„In den Klamotten?" Unsicher starrte Isabella auf ihre strahlend weiße Hose und zupfte an dem hellen Ärmel des Pullovers, den sie unter ihrem schwarzen T-Shirt trug. Natürlich hatte sie nicht daran gedacht, die Hose, die Meredith ihr hinterlassen hatte, mitzunehmen, hatte sie doch nicht gewusst, was sie erwartete.
Blue betrachtete sie kurz, dann sprang er leichtfüßig zu Boden.
„Du hast Recht.", sagte er und kramte in einer der Kisten, die an der Wand standen, bis er tatsächlich eine staubige, alte Hose hervorzog. Mit spitzen Fingern griff Isabella nach dem Stoff und nahm sich vor, besser nicht darüber nachzudenken, welches Ungeziefer in diesen Kisten lebte und noch weniger, wer diese Kleidung vor ihr getragen hatte. Doch sie war nicht in einer Position, in der sie Ansprüche stellen konnte, und da sie Blue nicht noch mehr Gelegenheit geben wollte, sie zu verspotten, klopfte sie den Stoff nur notgedrungen ein wenig aus.
Blue sah sie mit verschränkten Armen an. "Gibt es ein Problem?"
Sie spürte, wie die Röte ihr ins Gesicht schoss und hoffte, dass es in dem schummrigen Licht nicht zu erkennen war. „Könntest du dich bitte umdrehen?", fragte sie. Sie ärgerte sich, dass sie nicht einfach den Mut besaß, sich vor ihm umzuziehen, doch sie hatte heute schon zu oft ihre eigenen Grenzen überwunden. Zu ihrer Überraschung nickte Blue und wandte sein Gesicht ab.
Nachdem Isabella sich vergewissert hatte, dass er sie wirklich nicht beobachtete, zog sie sich ihr T-Shirt über den Kopf.
„Dein Name ist Blue?", fragte sie, während sie sich auch aus dem weißen Pullover schälte. „Sehr ungewöhnlich. Wie sind deine Eltern darauf gekommen?"
„Es sind nicht immer Eltern, die ihren Kindern einen Namen geben. Zumindest nicht den endgültigen.", erwiderte er nur und schwieg dann. Offensichtlich wollte er nicht mit ihr darüber sprechen. Sie hakte nicht weiter nach. Vermutlich steckte sowieso keine spannende Geschichte dahinter, sondern er hatte sich den Namen wegen seiner Augenfarbe selbst gegeben. Mit einem Räuspern zeigte sie, dass sie sich fertig umgezogen hatte.
„Schon besser.", sagte er, als er sich umdrehte. Ihr Herz klopfte, als er sie von oben bis unten musterte. Dann sah sie selbst an sich hinunter. Noch immer fühlte es sich seltsam an, die Farbe Schwarz an ihrem Körper zu sehen, doch sie musste sich wohl oder übel daran gewöhnen. Ihre Schuhe waren nun das einzige Helle an ihrer Kleidung und sie hoffte, dass sie nicht allzu schmutzig werden würden.
Blue zeigte auf eine Plattform in ihrer Nähe, die etwa auf Brusthöhe angebracht war. Isabella sah sie sich genauer an. Die ganze Konstruktion wirkte nicht besonders vertrauenerweckend, die Holzbretter waren alt und an manchen Stellen abgesplittert und notdürftig ausgebessert. Doch wenn sie Blues Gewicht trugen, dann sollten sie auch bei ihr nicht zusammenbrechen. Sie legte die Hände darauf und hoffte, dass keine kleinen Holzsplitter aus dem Holz ragten, dann stützte sie sich ab und versuchte, sich hochzustemmen. Mit einem Ächzen zog sie ihr rechtes Bein nach oben, doch sie erreichte die Plattform nicht, verlor stattdessen das Gleichgewicht und fing sich nur mit Mühe wieder auf.
Blue drängte sich an ihr vorbei und schwang sich mühelos auf die Plattform, bevor er wieder nach unten sprang und vor ihren Füßen landete. Er klopfte die Hände aneinander, Staub rieselte auf den Boden.
„Als Runner brauchst du nicht nur Ausdauer.", erklärte er. „Sondern auch Kraft. Aber nicht nur in den Beinen. Kraft in den Füßen, den Zehen, den Armen, sogar den kleinen Fingern. Dein ganzer Körper muss aus Muskeln bestehen, aber noch wichtiger ist, dass diese Muskeln wissen, wie sie arbeiten sollen, das heißt, du wirst auch lernen, wie du deine Kraft richtig einsetzt. Dich so aufs Dach zu schicken, wäre -" er legte einen Finger unter ihren Arm und hob ihn ein Stück nach oben, als würde er ihn begutachten, "-hirnrissig."
Isabella entzog sich seinem Griff. Was bildete er sich ein? Natürlich hatte sie sich bis jetzt noch nicht auf den Dächern herumgetrieben, also konnte er kaum erwarten, dass ihre Oberarme so breit waren, wie seine.
„Versuch es noch einmal.", wies er sie an und deutete auf die Plattform. Diesmal wollte sie es ihm beweisen. Mit aller Kraft stemmte sie sich nach oben, doch wieder rutschte sie ab. Das nächste Mal schaffte sie es erst gar nicht, das Knie nach oben zu schwingen.
Wütend ließ sie sich zurücksinken. Was sollte das überhaupt bringen? Wie sollte es ihr einmal auf den Dächern helfen, wenn sie hier auf eine Plattform klettern konnte? Vielleicht machte Blue sich einfach einen Spaß daraus, sie zu demütigen.
Er verdrehte die Augen und deutete auf die niedrigste Plattform, die im Raum angebracht war und ihr nur bis knapp unter die Hüfte reichte. Das würde kein Problem sein. Entschlossen wischte Isabella sich die schwitzigen Finger an ihrer Hose ab, legte die Hände auf das Holz, schwang ihr Bein nach oben und – ein stechender Schmerz schoss durch ihr rechtes Knie, als sie es auf die Plattform stützte. Sie schnappte nach Luft, ein Schmerzenslaut entfuhr ihrer Kehle, dann ließ sie sich zurück nach unten gleiten, wo sie ihr rechtes Hosenbein bis übers Knie hochzog. Es war blau und ein wenig geschwollen. Sicher war das passiert, als sie auf dem Dach gestürzt war.
Blue sah sie so ungeduldig an, dass Isabella sicher war, hätte er eine Armbanduhr getragen, so hätte er in diesem Moment mit einem theatralischen Seufzer einen Blick darauf geworfen.
„Wir können auch aufhören. Du willst sowieso nicht hier sein.", rief sie mit trotziger Stimme und zog den Stoff ihrer Hose wieder nach unten.
Blue löste sich aus seiner Position und trat mit ungläubigen Augen auf sie zu. „Dir scheint nicht klar zu sein, wie wichtig das hier für dich ist."
„Wenn es so wichtig ist, warum willst du dann nicht hier sein?"
„Nur weil es wichtig für dich ist, heißt das noch lange nicht, dass es auch mir wichtig ist."
Beide funkelten sich wütend an, doch Isabella wusste, dass sie verloren hatte. Sie war auf ihn angewiesen und irgendwie hatte er ja Recht. Auch wenn sie ihn dadurch nur noch weniger ausstehen konnte.
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Runner - Die Jagd beginnt
Science FictionDie Erde, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Zu viel Schaden haben Kriege und Verwüstung angerichtet. Isabella lebt gut behütet in Ashville, einer Stadt, die aufgebaut wurde, um seine Bewohner zu schützen. Keine Bedrohung dringt über die Stadtm...