39.

370 38 2
                                    

„Weite Himmel, tiefes Blau. Nur noch grün, kein weiß und grau.", summte Isabella leise vor sich hin.

Das Lied ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Allein die Erinnerung an den gestrigen Abend jagte ihr eine Gänsehaut über den Körper. Er hatte neue Erinnerungen entfacht. Erinnerungen an früher, als sie über Bücher gebeugt in ihrem Bett gesessen hatte, mit einem kleinen Licht, um nicht erwischt zu werden, und solange Geschichten über das Draußen gelesen hatte, bis ihr die Augen zugefallen waren. Sie hatte die Zeiten verdrängt, in denen sie sich nach anderen Welten gesehnt hatte. Schließlich gehörte es sich nicht. Aber jetzt war die Sehnsucht zurück. Eine Sehnsucht nach dem, was hinter der Mauer lag. Nach Freiheit, Glück und unberührter Weite. Das alles hatte sie gestern wieder gespürt und spürte es noch immer, wie ein Echo, das in ihr widerhallte und nicht verstummen wollte.

„Freie Erde, freies Land. Alles neu und doch bekannt. Durch die Bäume rausch..."

„Was singst du, Isabella?", unterbrach die Stimme ihrer Mutter sie scharf. Erschrocken fuhr sie herum. Unbemerkt hatte Amber den Raum betreten.

„Nichts.", sagte sie hastig und hoffte, dass ihre Mutter nicht auf den Text geachtet hatte. Warum hatte das Lied sich auch so in ihrem Kopf eingenistet?

„Ich will dir etwas zeigen.", sagte Amber. „Das hatte ich schon lange vor, aber ich wollte es nicht tun, solange du um Meredith trauerst. Jetzt scheinst du ja darüber hinweg zu sein."

Isabella wusste, dass sie auf das Lied anspielte, das sie so fröhlich gesungen hatte, und schämte sich dafür.

„Das ist nicht wahr!", versuchte sie sich zu verteidigen. „Ich bin nicht darüber hinweg. Ich-"

„Du musst dich nicht dafür entschuldigen.", unterbrach ihre Mutter ihren Satz. „Es ist gut, Bella. Wir können nicht in unserer Trauer versinken und das Leben um uns herum vergessen."

Isabella wagte es nicht, ihre Mutter zu fragen, wohin sie gingen, als sie das Haus verließen, sondern versuchte lediglich, mit ihren schnellen Schritten mitzuhalten. Amber grüßte die Leute, denen sie begegneten mit einem Lächeln, einem Kopfnicken oder einer gehobenen Hand. Gerade, als sie die Haltestelle erreichten, fuhr der Zug ein, und Amber und Isabella setzten sich in das vorderste Abteil, das zwar nicht für die obersten Regierungsmitarbeiter vorbehalten war, jedoch hauptsächlich von ihnen genutzt wurde. Der Zug nahm Fahrt auf und Isabella schluckte, als ihr auffiel, wie schnell er tatsächlich fuhr. Die Wohnviertel zogen vor den Fenstern vorbei und sie erwartete jeden Moment einen dumpfen Schlag zu hören, der durch einen aufspringenden Runner verursacht wurde.

Nach einigen Stationen stiegen sie aus und gingen noch einige Meter zu Fuß, bis sie um eine Ecke bogen und Isabella erkannte, wohin ihre Mutter sie führte.

Die gläserne Kuppel der Gewächshäuser ragte vor ihnen auf. Die rautenförmigen Fenster warfen die Sonne tausendfach zurück. Betreten hatte Isabella sie erst ein einziges Mal, mit ihrer Schulklasse, als sie die Erdbeerplantagen besichtigt hatten und die Apfelbäume. Sie hatten auch das Labor besucht, in dem Forscher versuchten, neue Obstsorten zu züchten. Doch in den Teil des Gebäudes, den sie jetzt hinter ihrer Mutter betrat, hatte sie noch nie einen Fuß gesetzt. Amber hielt ihre Hand gegen einen Sensor und eine Schiebetür glitt zur Seite.

Warme, feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Ein Geruch von Erde, Chemie und etwas anderem, nicht identifizierbaren, stieg Isabella in die Nase. Der Raum, der sie empfing, war rechteckig und in sterilem Weiß gehalten, zu dem der Geruch nicht passen wollte. Ein paar Türen führten in weitere Räume.

"Vita Naturalis", sagte Amber zu einer blonden Frau mit schüchternen blauen Augen, die neben einer der Türen stand. "Saal 28." Die Frau nickte eifrig. An ihrem hellgrünen Kittel und den weißen Gummihandschuhen erkannte Isabella, dass sie eine Mitarbeiterin der Gewächshäuser sein musste. Sie drückte eine Tastenkombination, die Tür glitt auf und führte in einen hellen Gang, der nach einigen Metern in einer weiteren Tür endete. Die Frau setzte sich in Bewegung und Amber und Isabella folgten ihr.

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt