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Vielleicht hatte sie es zuvor nicht wahrgenommen, weil sie nur die Häuser im Fokus gehabt hatte, oder ihr Gehirn hatte es in eine Ecke gedrängt, weil es Bilder, wie dieses, nur aus Büchern kannte.

Es war, als würde das Bild immer klarer werden, als würde sich ein Nebel lichten. Hunderte Häuser reihten sich aneinander, begrenzt von der hohen Mauer, die man von keinem Ort überblicken konnte. Von fast keinem.

Und dahinter? Es war keine besondere Landschaft zu sehen. Keine Wälder, Wasserfälle oder Blumenwiesen. Nichts von den magischen Orten, die sie sich immer vorgestellt hatte. Der Anblick, der sich ihr bot, war nur karge Weite, durch die sich ein Fluss schlängelte. Exakt das, was Meredith auf einem ihrer Bilder gezeichnet hatte. Sie mussten sie auch hierhergebracht haben.

Tränen traten in Isabellas Augen und ihr Brustkorb fühlte sich an, wie zugeschnürt. Sie wusste nicht, warum der Anblick sie so ergriff. Es war nicht so, dass das Bild sie überraschte. Ihre Mutter hatte immer gesagt, es befände sich Wüste außerhalb der Stadt. Unbewohnbare, trockene, gefährliche Wüste.

Vielleicht war es, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Aussicht genoss, die nicht irgendwo begrenzt wurde. Unendlich weit entfernt verschmolzen Erde und Himmel in einem nebligen, schemenhaften Streifen miteinander. Keine Häuser, keine Menschen, nichts hatte diese Landschaft durchbrochen.

Sie konnte sich kaum sattsehen. Sie wünschte sich, ewig auf diesem Dach stehen zu können und zuzusehen, wie die Sonne weiterwanderte. Schemenhaft stieg auf der anderen Seite der Mond in den Himmel. Kreisrund, wie ein Ball, den jemand in den Himmel geworfen hatte.

Beinahe vergaß sie sogar, dass die Runner um sie herum versammelt waren.

„Das ist es, wovon wir träumen.", flüsterte Blue in ihr Ohr.

Eine Gänsehaut zog sich über Isabellas Körper und es war nicht der kalte Wind, der in ihre Glieder fuhr. Natürlich träumten sie davon. Diese Bilder würden jeden bis in den Schlaf verfolgen.

Wollte der Hohe Rat deshalb nicht, dass die Menschen über die Mauer sehen konnten? Weil sich sonst alle wünschten, die Stadt zu verlassen?

Die Natur war gefährlich, das hatte ihre Mutter immer gesagt. Aber wenn sie es geschafft hatten, eine Stadt, riesig wie Ashville zu bauen, konnten sie es nicht auch schaffen, die Natur zu besiegen?

Doch sie wollte nicht länger darüber nachdenken, sondern jede Sekunde ausschöpfen, die sie hier oben verbrachte. Wer wusste, ob sich noch einmal die Gelegenheit bieten würde, über die Mauer zu sehen.

Es hatte sich gelohnt, alles auf sich zu nehmen, um zu den Runnern zu gehören. Alle Angst, alle Todesgefahr, alle rostigen Sprossen, alle lebensmüden Sprünge über metertiefe Abgründe.

Wie lange sie auf dem Dach standen und auf die andere Seite der Mauer blickten, wusste sie nicht, doch sie wünschte sich, dass dieser Moment nie enden würde. Der Fluss warf die letzten Sonnenstrahlen in glitzernden Punkten zurück, während er ruhig und unberührt seinen Weg durch die karge Landschaft fand. Der Himmel veränderte sich. Durch das dunkler werdende Blau zogen sich erst leicht-orange, dann rosa Streifen, bis er rot zu glühen schien.

Irgendwann bewegte sich Blue. „Wir müssen zurück.", sagte er. „Wir wollen doch nicht das Beste verpassen!"

Isabella wusste nicht, was er meinte. Was konnte besser sein, als hier zu stehen und die Welt zu beobachten, die, bisher vor ihnen versteckt, hinter den Mauern lag?

Doch sie sah ein, dass es langsam dunkel wurde. Die Sonne hatte den Boden erreicht und begann bereits, darin zu verschwinden. Noch nie hatte sie sie so tief stehen sehen. Stattdessen war die Sonne stets hinter der Mauer verschwunden. Hinter der Mauer, die bis jetzt immer Isabellas Horizont gewesen war. Bis sie den echten entdeckt hatte.

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt